Aspekte von der Kunstfotografie der Jahrhundertwende zur subjektiven Fotografie der fünfziger Jahre. Beispiele zu 50 Jahren Fotogeschichte aus der Sammlung Walter G. Müller, Brühler Kunstverein, Mönchengladbach 2001
Im Spannungsverhältnis von Kunst und Kommerz hat die Fotografie ihre eigene Ästhetik ausgebildet. Gegen die überhand nehmende Kommerzialisierung der professionellen Fotografie machte schon die piktorialistische Bewegung der Amateure und fotografischen Liebhaber am Ende des 19. Jahrhunderts Front. Mit offensichtlicher Vorliebe für atmosphärische Wirkungen in Anlehnung an die impressionistische und die symbolistische Malerei und einer bewusst unscharfen Linseneinstellung strebten die Fotografinnen und Fotografen des Piktorialismus betont künstlerische Bildlösungen an und scheuten auch manuelle Eingriffe während des Laborprozesses nicht. Der einzelne Abzug wurde als Unikat behandelt.
Auf die primär technischen Möglichkeiten des technischen Mediums besannen sich dagegen die Vertreter und Vertreterin der Fotografie eines „Neuen Sehens“ mit der Variante der „Neuen Sachlichkeit“ nach dem Ersten Weltkrieg. Manipulationen am Negativ waren strikt verpönt, daher der amerikanische Begriff „Straight Photography“. Vor allem die moderne Seite der sichtbaren Welt erregte ihre Aufmerksamkeit, die funktionale Architektur und der motorisierte Verkehr, überhaupt das Reich der Maschine, und die Maschine galt vielen als neuer Gott. Entweder standen die Dinge, meist einfache Gebrauchsgegenstände oder alltägliche Gegebenheiten, im Zentrum der fotografischen Aufnahmen, wobei die Form ihrer Darstellung aufs Notwendigste beschränkt wurde, oder das Sehen selbst, und die Bilder wurden als Konstruktionen des Sichtbaren begriffen. Diese Auffassung äußerte sich in extremen Blickwinkeln, Vogel- und Froschperspektive, und in diagonalen Aufrissen sowie porenscharfen Nahaufnahmen. Außerdem in Montagen, systematischen Reihen und fotografischen Experimenten. Deutlich war die Nähe der Fotografie des „Neuen Sehens“ zur Kunst der Avantgarde, namentlich den Tendenzen des Konstruktivismus, und zunächst ebenso antikommerziell eingestellt wie diese. Gleichwohl feierte sie in der Werbung ihre größten Triumphe, die in den spektakulären Perspektiven und den schnörkellosen Bildern hervorragende Voraussetzungen zur wirksamen Produktreklame erblickte.
Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland verbanden sich die persönlichkeitsbetonten Elemente des Piktorialismus und die postulierte Objektivität des fotografischen Funktionalismus in Europa zur „Subjektiven Fotografie“. Auch die Fotografen und Fotografinnen der „Subjektiven Fotografie“ suchten Anschluss an die Bildsprache der avancierten Kunst, etwa den auslaufenden Surrealismus und den abstrakten Strömungen des Informel. Sie hielten aber insofern an wichtigen Kriterien der Fotografie des „Neuen Sehens“ fest, als sie in der Aufnahmetechnik einen dokumentarischen Stil bevorzugten, den sie allerdings häufig atmosphärisch mit harten Kontrasten und tiefen Schatten, wie unter Einfluss existentialistischer Lebensmodelle, aufluden. Der Verführung der Kommerzialität verweigerte sich die „Subjektive Fotografie“ weitgehend, obwohl sich unter ihnen zahlreiche professionelle Fotografen befanden, die jedoch die beiden Sphären in ihrer Arbeit deutlich voneinander trennten. In der formalen Unentschiedenheit mancher Fotografen entdeckten Kritiker eine Flucht vor den Herausforderungen einer Realität, die alles Vorstellungsvermögen überstieg. Danach verloren sich die markanten Prägungen in der Fotografie allmählich, analog ging die Entwicklung in der Kunst voran, und die Unterschiede zwischen künstlerisch anspruchsvoller Fotografie und Kunst verschwammen zusehends.
© Klaus Honnef