Die Welt, 12. August 2004
Ein potentieller Käufer, von Picasso im Atelier herum geführt, kritisierte dessen gebrochene Darstellung von Menschen und präsentierte, um einen Beweis gebeten, wie diese seiner Meinung nach korrekt ausfallen müsse, das fotografische Porträt seiner Angetrauten. Nach intensiver Musterung des Bildes habe der Maler geantwortet: „Aha, das ist ihre Frau. So klein ist sie. Und so flach!“ Heinz von Foerster überliefert die Anekdote in einem Buch mit dem provokanten Titel „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, und die beiden Kuratoren Sigrid Schneider und Stefanie Grebe zitieren sie genüsslich in der inspirierenden Ausstellung „Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien“ des Ruhrlandmuseums in Essen.
Im Zeichen einer fortgeschrittenen Mediengesellschaft dürfte eigentlich niemand anders als der scheinbar naive Meisterkünstler auf eine fotografische Aufnahme reagieren. Denn die Differenz zwischen Motiv und seinem Abbild springt förmlich in jedes Auge. Gleichwohl galten und gelten Fotografien nach wie vor in besonderem Maße als realitätskonform und wirklichkeitswirksam, und nur gelegentlich erheben sich laute Zweifel, wenn sie als untrügliche Beweise in verschiedenen Prozessen des Daseins aufgeboten werden. Vom Unfall- über das Such- bis zum Gräuelfoto. Das Urlaubsfoto der Touristen dokumentiert nach allgemeiner Ansicht ihre Anwesenheit am Eiffelturm stichhaltiger als der Erwerb einer Postkarte des Monuments. Selbst ein Bundespräsident mischte sich einmal in eine mit allen erdenklichen fotografischen Beweisen ausgestattete Diskussion um ein tatsächliches oder vermeintliches Tor, als die deutsche Fußballnationalmannschaft noch in Endspiele gelangte. Und in Großbritannien war die Öffentlichkeit so erleichtert, dass sich die Bilder folternder britischer Soldaten im Irak rasch als Fälschungen entpuppten, dass die Frage nach möglichen Verstößen auch ihrer Truppe prompt verstummte.
Aus welchen Grund gewähren die Menschen der Fotografie einen solchen Kredit? Ganze Bibliotheken wissenschaftlicher Analysen haben zu erklären versucht, dass die Zeichen, die eine Fotografie von der sichtbaren Welt festhält, kraft ihrer spezifischen Technik nicht willkürlich sondern zwangsläufig, gleichsam physisch mit den abgebildeten Gegenständen verbunden sind. Im Gegensatz zu den handwerklich geschaffenen Vergegenwärtigungen. Doch erklärt dies nur unzureichend, weshalb wir fotografische Bilder für wahrer im Sinne von wirklichkeitsgetreuer halten als gemalte oder gezeichnete. Dabei waren die Gläubigen vormoderner Zeiten in Europa davon überzeugt, in den standardisierten Ikonendarstellungen von Christi und seiner Mutter Maria die Abgebildeten leibhaftig vor sich zu sehen.
Unbeschadet aller kritischen Einwände, schrieb der Filmkritiker André Bazin, bliebe uns nichts weiter übrig, als an die Existenz der im fotografischen Bild „re-präsentierten“ Dinge zu glauben, und Roland Barthes spricht in seinem Buch „Die helle Kammer“ sogar von einem magischen Verhältnis. Gegen Magie und Glauben ist jedoch kein Kraut gewachsen, und darum vermag auch die bestechend intelligente und sorgfältig erarbeitete Ausstellung „Wirklich wahr!“ trotz gut platzierten Gegenzaubers mit trefflichen Beispielen an dem augenscheinlich menschlichen Urbedürfnis nach Illusion nichts zu ändern. Dafür stiftet sie Verwirrung, produktive Verwirrung indes, und nicht zu knapp, indem sie die künstlichen Unterscheidungskriterien der verschiedenen fotografischen Disziplinen als ebenso fragwürdig erscheinen lässt wie das gemeinhin unterstellte „Realitätsversprechen von Fotografien“: Angebliche Reportagebilder vom Krieg sind in Wahrheit Bestandteile einer Werbekampagne, sozialkritische Dokumentaraufnahmen vom Horror des Alltagslebens penibel inszenierte Mode- oder Kunstfotografien, und einfache, „authentische“ Amateuraufnahmen verwandeln sich unversehens in Zeugnisse mutmaßlicher ästhetischer Bestrebungen. Ohne die Hilfe der Bildlegenden würden die Betrachter in die meisten der aufgestellten optischen Bildfallen tappen. Vermitteln die Unterschriften aber die Wahrheit?
Nichts desto weniger schickt die erfrischend übersichtliche Schau, die Fotografie in zahlreichen ihrer Anwendungsweisen demonstriert, alle vordergründigen Thesen von der Realitätsnähe und -dichte zeitgenössischer Kunstfotografie, wie sie etwa die gegenwärtig zirkulierende Ausstellung „Cruel and tender“ vertritt, als leere „Realitätsversprechen“ ins Reich der Spekulation. Wahrscheinlich ziehen wir im Endeffekt das Maß an Realitätserfahrung, das wir in die fotografischen Bilder und abhängig von ihrem jeweiligen Kontext projizieren, auch aus ihnen wieder heraus. Noch entspricht das Medium dem kollektiv vorherrschenden Bild der Realität. Nur nach Maßgabe seiner Bilder besitzen dank digitaler Technik aufwändig rekonstruierte Dinosaurier im Kino auch ihre „realistische“ Gestalt. Welches Bild die menschlichen Zeitgenossen in grauer Vorzeit von ihnen hatten, weiß tatsächlich keiner.
Wohlweislich spart „Wirklich wahr!“ die Tendenz der Fotografie zur Ikonolatrie aus. Es sind nämlich fotografische und filmische Bilder in ausgepichter Stilisierung, die Menschen aus der Sphäre der Unterhaltungsindustrie säkulares Verehrungspotential mit hohem Wirkungsgrad verleihen. Von Leinwandgöttern und war einst die Rede. Selbst banale Konsumartikel profitieren gelegentlich von der Aura des Fotografischen. Vielleicht ruft diese Eigenschaft des Mediums das unverminderte Verlangen hervor, fotografiert zu werden oder sich selbst zu fotografieren. Mit dem „klassischen“ Porträt, das vorgab hinter die Fassade der Porträtierten zu leuchten, haben solche Bilder nichts gemein.
Das Ergebnis eines Wettbewerbs des Kölner Forums für Fotografie, das dessen ungeachtet nach „dem“ fotografischen Porträt fahndete, demonstriert nachdrücklich, dass sich die Vorstellung vom Bildnis einschneidend gewandelt hat. Es sind kaum unterscheidbare Durchschnittgesichter, die den Betrachtern begegnen, selten „Charaktere“. Wer indes genauer hinschaut, entdeckt, dass sie ein völlig diffuses Identitätsmuster entfalten, eines, das sich in Nuancen äußert und seine Unverwechselbarkeiten aus fast versteckten Signalen der Gruppenzugehörigkeit, sozialen Schicht, des örtlichen Umfeldes und der Mode, des Films und der Fotografie bezieht. Das „Realitätsversprechen“ der Fotografie verheißt allen, die fotografiert werden, jenen Augenblick, wo sie sich scheinbar über die Zwänge ihrer Alltäglichkeit erheben können.
© Klaus Honnef