magazin der bundeshauptstadt: Rare Sorte Mensch

„Die Wahrheit der Fotografie ist die Lüge“, sagt einer, der es wissen sollte. In dem kleinen Örtchen Seifen am Rand des Westerwaldes hinter den Sieben Bergen bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, dem Klaus Honnef. Da ist wieder mal einer, den man mögen muss oder nicht, war mir schnell klar geworden. Der Klaus Honnef ist einer, den ich mag. Bei dem geht zwischen Sympathie und Antipathie gar nichts. Diese Sorte Mensch ist rar.

O.N. │magazin der bundeshauptstadt, Heft 4, August/September 1986

 

Ulrike Zellmann: Ungetrübte Leidenschaft fürs Bildersehen

„Nichts als Kunst“ – mit dieser globalisierenden Geste laden zwei Frauen, Gabriele Honnef-Harling und Karin Thomas, zur Lektüre ausgewählter Schriften des Medienkritikers, Autors, Museums- und Ausstellungsleiters Klaus Honnef ein. Der Titel lockt mit einer Selbstverständlichkeit, die wie ein freches Echo auf den Slogan vom „Ende der Kunst“ klingt – im Grunde aber ist er Ausruf und Seufzer ungetrübter Leidenschaft des Autors fürs Bildersehen, für Wahrnehmungsabenteuer und das intellektuelle Vergnügen am künstlerischen Experiment.

Ulrike Zellmann │Süddeutsche Zeitung, 17/18.01.1989

 

Susanne Boecker: Deutsche Fotografie als Provokation

„Deutsche Fotografie“ – warum wirkt dieser Ausstellungstitel wie eine Provokation, auch wenn er gar nicht als solche gemeint ist? Warum stellt sich sofort dieses Unbehagen ein, das – wie die Kuratoren Klaus Honnef und Rolf Sachsse richtig bemerken – in anderen Bereichen des Kunstschaffens längst vergessen ist… „Macht eines Mediums“ lautet ihr Untertitel – und diese stellt die Schau wahrhaftig unter Beweis: Sie erschlägt den Besucher geradezu mit Fotografie.

Susanne Boecker │Kölner Stadt-Anzeiger, 13.05.1997

 

Kölner Stadt-Anzeiger: Kurator einer fulminanten Fotoschau

„Deutsche Fotografie – Macht eines Mediums 1870-1970“. Mit einer fulminanten Fotoschau löst die Ausstellungshalle Bonn beide im Titel erhobenen Ansprüche ein: sowohl 100 Jahre deutsche Fotogeschichte repräsentativ zu spiegeln als auch die Macht des Mediums zu verdeutlichen… Eine Aufzählung der Namen liest sich wie das „Who“s who“ der deutschen Fotografen. Erst durch die Zusammenstellung der Aufnahmen von berühmten Fotografen werden neue Aspekte ihrer Arbeiten sichtbar. Auffällig viele Fotografennamen finden sich in der Künstlerliste der zweiten, ebenfalls von Klaus Honnef kuratierten Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum wieder: „Und sie haben Deutschland verlassen … müssen – Fotografen und ihre Bilder: 1928-1997“. In optisch weit bescheidenerem Rahmen wird hier der Versuch unternommen, die Spuren der von den Nationalsozialisten verfolgten Fotografen aufzunehmen und ihnen ihren Platz in der Fotografiegeschichte zu sichern.

O.N., Kölner Stadt-Anzeiger, 13.06.1997

 

Alexandra Lautenbacher: Klaus Honnef und die Autorenphotographie

Der Bonner Museumsmann Klaus Honnef prägte Ende der 70er Jahre den Begriff „Autorenphotographie“. Während in Amerika zunächst niemand zwischen angewandter und freier Photographie unterschied, verglichen sich die Photographen in Europa mit den Autorenfilmern und grenzten sich von der kommerziellen Photographie ab.

Alexandra Lautenbacher │ Die Welt, 24.12.1998

 

Thomas Kliemann: Multipler Kunstbeweger

Er gehört zu den multiplen Kunstbewegern, die in heutigen Zeiten Seltenheit geworden sind… Honnef … hat sich als Schreibender und Ausstellungskurator große Meriten für die Verbreitung von Pop-Art, Op-Art, Hard-Edge und Minimal sowie Conceptual-Art in Deutschland erworben. Besonders aber setzt sich der Professor an der Universität Kassel für die Fotografie des 20. Jahrhunderts ein.

t.k. (Thomas Kliemann) │General-Anzeiger, 14.10.1999

 

Thomas Kliemann: Facebook als Plattform für den Kulturdiskurs

Klaus Honnef hat Facebook als Plattform für den Kulturdiskurs für sich entdeckt. Dabei ist er kein Mann des schnell hochgeladenen Schnappschusses oder läppischen Zwischenrufs. Honnefs Beiträge sind kritische, gebildete, anregende Feuilletons, geistreiche Kommentare zum kulturjournalistischen Tagesgeschäft oder auch Gedanken über Gott und die Welt. Ob Berliner Gemäldegalerie oder Pilotenstreik, literarische Neuerscheinungen oder kulturpolitische Abwege – Honnef spießt alles auf… Er hat viel zu sagen. Immer noch.

Thomas Kliemann. Der Mann, der Newton nach Bonn holte. │General-Anzeiger, Samstag/Sonntag, 11./12. Oktober 2014

 

Stefan Gronert: Bahnbrechendes geleistet

Klaus Honnef hat zu einer Zeit Bahnbrechendes geleistet, was heute verschwiegen wird. Ich warte eigentlich einmal auf eine Rezeptionsgeschichte der Fotografie, die den Honnef’schen Beitrag monografisch hervorhebt (hab leider keine Zeit dafür, würde es gerne tun, aber wozu gibt es Dissertationen?).

Dr. Stefan Gronert │facebook, 24. Dezember 2015

 

Die Bilder und die Wirklichkeit (2014)

L Fritz. Internationale Photoszene Köln, 2014

Sie sehen wie Spitzbuben und Galgenvögel aus. Sie tragen die Gesichter von tagesscheuem Gesindel. Die verschlagenen Blicke empfehlen näher Tretenden Vorsicht. Figuren wie sie bevölkern die sozialkritischen Romane von Charles Dickens und Émile Zola. Ihre Kleidung ist gleichwohl erlesen. Beste Stoffe. Seide und Satin. Prachtvolle Orden aus Gold und Edelstein schmücken sie. Doch nicht die Führungskräfte einer Familie aus dem kriminellen Milieu haben sich vor der Staffelei des Malers Francisco Goya eingefunden, sondern die königliche Familie Spaniens.

Der erste Eindruck täuscht nicht einmal. Nach allem, was wir wissen, nehmen sich die finsteren Typen aus den Seifenoper-Serien des US-Fernsehens wie „Dallas“ oder „Dynasty“ gemessen am spanischen König Ferdinand VII. und seinem Bourbonenhof wie Chorknaben aus. Offenbar besaß Goya die Gabe des genauen Blicks. Fähig, den pompösen Glanz des höfischen Zeremoniells zu durchschauen und den falschen Schein zu durchdringen. So mag es gewesen sein. Goyas scharfer „Realismus“ ist deshalb in der Literatur zu Recht oft hervorgehoben und gefeiert worden.

Ob die optische Wiedergabe der Königsfamilie aber derart krass und entlarvend gemeint war, wie es uns im jetzigen Anblick erscheint, möchte ich mit einem dicken Fragezeichen versehen. Denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die hohen Herrschaften nichts dagegen gehabt haben, wie Schurken und „Scheiße in Seidenstrümpfen“ – ein geflügeltes Wort des Bischofs von Autun und langjährigen französischen Außenministers Talleyrand –, dargestellt zu werden. Mit blanker Blindheit waren die spanischen Aristokraten nicht geschlagen, und die außerordentliche Kunstfertigkeit des Malers wäre kein Bonus gewesen, um ihm den Kopf zu retten. Vielmehr hätten sie, vermute ich, ihren geschätzten Hofmaler ohne Umschweife der Garotte überantwortet, wäre ihnen eine solche Absicht ins Auge gesprungen. Für die Vermutung, dass sie mit ihren Bildern aus der Hand Goyas zufrieden waren, gar, dass sich ihr Selbstbild von diesen kaum unterschied, spricht einiges, zumal die Porträts der Herrscherfamilie repräsentativen Charakter hatten. Nicht zuletzt fiel ihnen die Aufgabe zu, sich und ihresgleichen zu beeindrucken.

Ohne allzu tief in die historischen Verhältnisse der spanischen Monarchie am Anfang des 19. Jahrhunderts einzutauchen – das Beispiel zeigt, dass wir die Bilder früherer Epochen, auch wenn sie in einem uns weitgehend vertrauten Bildschema auftreten, mit anderen Augen betrachten als ihre Zeitgenossen. Ich meine es weniger im selbstverständlichen, im physiologischen Sinne, sondern in dem Sinne, dass unsere Wahrnehmung völlig anders trainiert ist als die Wahrnehmung derer, an die sich die Bilder damals richteten. Dass in anderen Worten nicht nur die Modi der Darstellung einem historischen Wandel unterliegen, sondern in gleichem Maße die Modi der visuellen Erfahrung. Was überspitzt ausgedrückt heißt, dass wir nicht sehen, was wir sehen, sondern was wir wissen.

Seit mindestens sechs Generationen entwerfen die Bilder des Mediums Fotografie – anlog und digital – unser Bild der sichtbaren Erfahrungswelt. Sie prägen deren Anschauung ebenso wie unser Verhältnis zu ihr und nicht weniger das Verhältnis zu uns selbst. Mit welchen Konsequenzen ist zwar Gegenstand unzähliger Abhandlungen, verliert sich aber im Reich der wissenschaftlichen Spekulation. Dabei dürfen wir die übrigen Modelle, der Erfahrungswelt und dem eigenen Ich zu begegnen, wie sie die Wissenschaften der Psychologie und Geschichte entworfen haben, nicht ausblenden. Beide im Übrigen Kinder des 19. Jahrhunderts wie die Fotografie. Eine psychologisch motivierte Interpretation seiner Porträts wäre Ferdinand und Konsorten denn auch ebenso völlig unverständlich gewesen wie eine kriminalistisch eingefärbte Sicht.

„Photography Changes Everything“ stellt der amerikanische Kurator und Kritiker Marvin Heiferman im jüngsten, von ihm initiierten und herausgegebenen Buch lakonisch fest, und Forscher der meisten einflussreichen wissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart, von der Biologie bis zur Medizin, von der Astronomie bis zur Physik, von den Kommunikations- bis zu den Kunstwissenschaften bekräftigen seine These in knappen und präzisen Essays. Das Erstaunen darüber, wie sehr sich unsere Beziehungen zu den Phänomenen, die wir als Realität begreifen, im Vergleich zum Wirklichkeitsverständnis unserer Vorfahren umgewälzt haben, wächst bei der Lektüre des Buches von Seite zu Seite. Kaum ein Gebiet blieb unberührt. Vieles ist inzwischen so selbstverständlich, dass es einer gründlicheren Ausleuchtung bisher nicht für wert erachtet wurde.

Würden wir etwa aus gemalten und gezeichneten Bildern den Schluss ziehen, es sei „so gewesen“, wie diese Bilder es zeigen? Eine Fotografie erscheint uns erheblich „wirklichkeitsgetreuer“, „wahrer“, authentischer als ein Gemälde oder eine Zeichnung vom selben Motiv. Doch mit welchem Recht? Dabei vergegenwärtigt eine gezeichnete Version des betreffenden Motivs die entscheidenden Details bisweilen akkurater als eine Fotografie, und die Archäologen halten ihre Fundsachen unvermindert in beiden Bildformen fest. Ist die Fotografie deshalb „wirklichkeitsgetreuer“, weil das Motiv sich mithilfe des Lichts ins Bild förmlich eingebrannt hat und es dadurch „objektiviert“ hat? Weil eine Maschine statt eines künstlerischen Auges und Hand den Abbildprozess vollzogen hat? Warum empfinden wir andererseits Goyas Porträts der spanischen Herrscherfamilie als „realistischer“ denn die Herrschaftsbilder von Velázquez und Tizian? Womöglich, weil es uns zur Gewohnheit geworden ist, gemalte und gezeichnete Bilder in der Optik der fotografischen Linse anzusehen? Geeicht auf detailgesättigte Darstellung? Oder, weil das Medium Fotografie schon früh in der theoretischen Literatur mit dem Tod assoziiert wurde? Immerhin behauptete der „göttliche Aretin“, Tizians Bildnisse verliehen den Porträtierten ein ewiges Leben.

Warum billigen wir ferner den Bildern der „Schwarz-Weiß-Fotografie“ einen höheren Grad an Realismus zu als der tatsächlich „realistischeren“ Farbfotografie? Nur eine Frage des Alters der Betrachter? Wenn es ernst wird, bevorzugen massenhaft verbreitete Bilderblätter (und das Fernsehen) immer noch häufig das herbe Schwarz-Weiß. Dagegen gehört zu den artifiziellsten Gattungen des Kinos der (schwarz-weiße) „Film noir“ mit seinen nächtlichen Kulissen und den Lichtreflexen auf dem regennassen Straßenpflaster. Nichts desto trotz hat die Kritik stets seinen ungeschminkten Realismus gepriesen.

Die fotografischen Bilder haben sich tief ins komplexe Gefüge unserer Erinnerungen eingenistet. Womöglich verschwinden sie allmählich wieder, seit die Smartphone-Fotografie sie verflüssigt und flüchtig gemacht hat und einen völlig neuen Umgang mit dem Medium eröffnete. Angesichts der bezwingenden Bilder Walker Evans‘ vom Amerika der schweren Depression im Kielwasser der Weltwirtschaftskrise stellte sich der große Kurator John Szarkowski unwillkürlich die Frage, ob sich seine Erinnerungsbilder dieser Zeit dem eigenen Erleben oder den Fotografien von Evans verdanken? Geht über die Jahre der Depression in den USA die Rede, steigen unweigerlich seine und die Bilder der übrigen Fotografinnen und Fotografen im Auftrag der legendären Farm-Security-Administration vor unserem geistigen (!) Auge auf. Auch meine Erinnerungsbilder des Zweiten Weltkriegs und die ersten Nachkriegsjahre sind schwarz-weiß gefärbt.

Nicht allein die Bilder unseres Gedächtnisses werden in einer Weise von Bildern fotografischen Ursprung kolonisiert, dass eine Differenzierung zwischen unmittelbarer und mittelbarer optischer Erfahrung schier unmöglich geworden ist. Erschwert natürlich durch den Umstand, dass wir praktisch blind den Mutterleib verlassen und das Sehen von Grund auf lernen müssen.

Folgenreicher noch als die Besetzung unserer Erinnerung ist allerdings, welchen Einfluss die fotografischen Bilder auf unsere akute Wahrnehmung ausüben. Inwieweit greifen sie über diese Vermittlung in unsere Entscheidungen und Handlungen direkt ein? Ein bezeichnendes Beispiel liefern die People-Magazine mit den leeren Fotoshop-Gesichtern von der Stange. Dr. Frankenstein was here. Erschreckender als diese Einheitsgesichter ist, dass sie einen bizarren Trend befördert haben, der schon Teenager zum Glättungstechniker treibt. Knapp 230 Jahre später und auf eine solche Sicht der Dinge abgerichtet, hätte die spanische Herrscherfamilie ihren Hofmaler sofort dem Scharfrichter überantwortet.

Was haben die fotografischen Bilder mit uns angestellt? Was stellen sie mit uns an? Dass sie unser Gesichtsfeld, das Terrain des Sichtbaren enorm erweitert haben, leidet keinen Zweifel. Sowohl der Makro- als auch der Mikrokosmos ist kein Buch mehr mit sieben Siegeln – viele der Siegel, natürlich nicht alle, hat die Fotografie gebrochen. Zahlreiche medizinische Operationen gelingen nach Bildern besser als nach unmittelbarem Augenschein. Wir sind mit Neil Armstrong auf dem Mond herumgestapft und haben die Oberfläche des geheimnisvollen Planeten Mars überflogen. Zunächst aber haben uns die fotografischen Bilder „unsere eigene“ Welt vor Augen geführt, bevor wir sie physisch, wenn auch bloß vorübergehend in Besitz nehmen konnten. Paris, Venedig, London und New York, San Francisco und Shanghai – ihr fotografisches Bild hat unsere Sicht geformt, ehe wir sie sahen.

Das Gesicht Ferdinands VII. war nur dem inneren Zirkel des Hofs und den Höfen der Fürstentümer bekannt, mit denen Spanien Kontakte hatte. Die meisten Herrschaftsrepräsentanten unserer Zeit sind Hausgenossen und vertrauter als das Gros der Verwandten.

Auch das Medium Fotografie und die moderne Demokratie sind gemeinsam herangewachsen. Dabei hat die Fotografie immer nachhaltiger in unser Verhältnis zur Politik eingegriffen, und die Politik allmählich auf die Ebene des Show-Business verschoben. Den Reichspräsidenten Ebert brachte die „Berliner Illustrirte“ noch unbeabsichtigt um seinen soliden Ruf, als sie ihn auf einem Cover in Badehose abbildete. Der russische Präsident Putin zieht aus ähnlichen Fotografien seine Popularität wie Dekaden vorher ein junger US-Präsident. Und bei jedem Wahlkampf grinsen uns die alterslosen Retortengesichter derer an, die um unsere Wählergunst werben. Der fotografische Glamour hat sich ihrer Gesichter bemächtigt; erster Schritt auf dem Weg zum Verlust der Glaubwürdigkeit.

Nachdem wir alles wissen über die Intentionen der Fotografinnen und Fotografen, manches über die Intention der Bilder, was auch nicht identisch ist, etliches über die Intention des Mediums, ist es langsam an der Zeit, dass wir, an die sich sämtliche der genannten Kräfte adressieren, auf die Bühne der Reflexion gelangen. Was tun die fotografischen Bilder eigentlich mit uns, wenn wir die sichtbare Welt durch das Fenster der Fotografie sehen?

© Klaus Honnef

Die Bilder sind flach, und die Welt ist eine Scheibe (2012)

PHOTONEWS: Zeitung für Fotografie, Nr. 3/12, S. 3

„... wenn ich mir angucke, was wir so machen, dann fehlt es da einfach ein bisschen an Radikalität und Originalität, vielleicht auch an Größenwahnsinn“, sagte der deutsche Filmemacher Matthias Glasner in einem Gespräch mit der FAZ. Das Gespräch fand im Vorfeld der Berlinale 2012 mit Glasner und seinen Kollegen Christian Petzold und Hans-Christian Schmid statt und wurde am 9. Februar veröffentlicht. Alle drei Regisseure waren im Wettbewerb des Filmfestivals vertreten. Außer der selbstkritischen Einsicht von Glasner ist eine Forderung von Petzold bemerkenswert, zumal sie sich ohne weiteres auf die fotografische Szene in Deutschland über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung projizieren lässt: „Ich verlange vom Filmemacher in Deutschland, dass man Filme macht, die etwas gesehen haben...“ Das bundespräsidiale „man“ einmal ausgeblendet, wodurch sich die subjektive Verantwortung ins Nebulöse verflüchtigt, trifft Petzolds Forderung den Kern der Sache: Entscheidend sind Bilder, „die etwas gesehen haben“. Dabei widerspricht sie der Feststellung Glasners, der zufolge es den Bildern oft an Radikalität, Originalität und Größenwahn mangelt, nicht.

Wer sich in den letzten Jahren intensiver mit den Zeugnissen der zeitgenössischen Fotografie in praktischer Anschauung beschäftigt hat, wundert sich zunehmend darüber, was die Fotografinnen und Fotografen, die ihre Bilder in privaten Galerien, öffentlichen Kunstinstitutionen und an alternativen Orten zeigen oder in Life-Style-Magazinen und den seltenen Illustrierten publizieren, alles nicht gesehen haben. Darum ist in ihren Bildern auch nichts zu sehen. Zwar steigt die Anzahl der ausgestellten Fotografien stetig an, die Anzahl der Bilder unter den Fotografien scheint im umgekehrten Verhältnis aber beständig abzunehmen. Stattdessen häufen sich die Klischees, die Bildmuster, die sich als erfolgreich erwiesen haben und entsprechend geläufig sind. Davon ausgenommen ist keine fotografische Sparte, nicht die journalistische noch die dokumentarische noch die künstlerische – um, auch wenn es unsinnig ist, an den gängigen Zuordnungen festzuhalten. Die Grenzen haben sich ohnehin längst vermischt. Ein eklatanter Mangel an Neugierde ist den meisten Bildern gemeinsam, an ästhetischer Risikobereitschaft. Erst vor kurzem promovierte World Press Photo eines der vernutztesten Motive „klassischer“ Malerei und Plastik zum Pressefoto des Jahres 2012: Eine Pietà aus dem Jemen. Eine Aufnahme, die zeigt, wie eine tief verschleierte Frau einen toten Mann in den Armen hält. Seinen aufrüttelnden Impuls bezieht das Bild allein aus dem Code des zitierten Vorbildes, sichtbar in der Pyramidenform der Pietà-Darstellung. Er bezeichnet ein Mutter-Sohn-Verhältnis. Das einzig irritierende Moment des Bildes sind die weißen Handschuhe der Frau.

Klischees verbergen die Bilder und verhüllen außerbildnerische Interessen. Klischees sind Bilder, die nichts gesehen haben, außer einem erfolgreichen Musterbild. Die jedoch etwas verkaufen wollen: Waren, Ideologien, Moden. Die Ursachen des verbreiteten Hangs zum Klischee in der Fotografie sind vielfältig und liegen nicht ausschließlich in der Phantasie- und Mutlosigkeit der Autoren.

Ein Grund ist in der Logik der Technik zu suchen, deren immanentes Gesetz auf Perfektion lautet. Perfektion ist eine zweischneidige Angelegenheit. Die Masse der fotografischen Bilder, die der Amateure ein¬geschlossen, liefert die Probe aufs Exempel. Je perfekter die Maschinen, die Bilder herstellen, desto steriler ihre Produkte. Im Vergleich zu den glatten Familien- oder Touristenfotos von heute wirken die ungelenken, verwackelten Aufnahmen früherer Zeiten vital und persönlich. Vermutlich ist ein geringer Anteil Fehlerhaftigkeit notwendig für ein außergewöhnliches Bild. Trotz allen Strebens der Urheber nach Vollkommenheit: ein Gran Unvollkommenheit. Deshalb beruht die gelegentlich aufflammende Diskussion, ob die großen Künstler der Vergangenheit die Camera obscura zur Handhabung der Perspektive benutzt haben, auf falschen Voraussetzungen.

Die vollendete Beherrschung der Perspektive war nämlich selbstverständlicher Teil ihres technischen Rüstzeugs. Aber sie war Handwerk. Angewandt nach den Opportunitäten der jeweiligen Gestaltung und ihnen angepasst. Die Perspektive musste durch mühevolle Übung erlernt werden. Das Medium Fotografie hat hingegen alle Menschen ohne Ausnahmen zu potentiellen Bildautoren gemacht, sie sämtlicher Mühen enthoben und das Privileg der professionellen Bildschöpfer gebrochen. Darin liegt ihre einschneidende soziokulturelle Bedeutung. Um den Preis allerdings, dass die Bilder eine Tendenz zum Uniformen entfalten und die Fotografen sich in menschliche Attribute der Maschinen verwandeln, die ihre Mechanismen nicht mehr durchschauen. Die perfekte Maschine ersetzt das Sehen und bietet sogar an, durch welchen Kunstfilter, vom Impressionismus bis zum Realismus, ein Bild gesehen werden kann. Nicht von ungefähr rief Vilém Flusser in seiner „Philosophie der Photografie“ die Künstler nachdrücklich dazu auf, Bilder gegen die Maschinen zu realisieren. Und endlich wieder sehen zu lernen, wäre hinzufügen.

Ein außertechnischer Grund für die ästhetische Entleerung der Bilder besteht in der Phantasie- und Mutlosigkeit derer, die eine Schlüsselstellung in den verschiedenen Vermittlungssystemen von Bildern haben, den Redakteuren, Art-Direktoren, Produzenten, Jurys, Kuratoren und Kunsthändlern. Sie verstärken die Neigung der Bildautoren zu erprobten Lösungen visueller Herausforderungen und fördern die Scheu vor ästhetischem Risiko. Erweist sich ein bestimmtes Muster, sei es visuell, narrativ oder diskursiv, als erfolgreich, wird es immer wieder nachgeahmt und so oft in leichten Variationen reproduziert, bis es förmlich unsichtbar wird und allenfalls noch ein lahmes „Déjà-vu“ oder „Aha“ provoziert. Gleichwohl – oder womöglich auch deshalb – scheint das Klischee bei der Mehrzahl seiner Adressaten einen pavlovschen Reflex auszulösen, seiner Botschaft in irgendeiner Form (Kaufappell) nachzugeben.

Jedenfalls verheißt das Klischee die Sicherheit, auf Anhieb wieder erkannt zu werden. Sicherheit ist ein Passepartoutwort der Postmoderne; Sicherheit wollen selbst die Urlauber, die Abenteuer buchen. Vor der Folie fortschreitender Kommerzialisierung, der Raison d´être der modernen Konsumgesellschaft, ist das Klischee ein „sicheres“ Markenzeichen. Ein Markenzeichen signalisiert einen bekannten Namen, der Sozialprestige verspricht; die Zugehörigkeit zu einer sozialen Grup¬pe, der „man“ angehören möchte. Konformismus ist die Kehrseite kommerzieller Praxis.

„Entlebung“ hat Konstantin Wecker die Konsequenzen der wachsenden Gentrifizierung in angesagten Innenstadt-Quartieren beliebter deutscher Großstädte wie München, Hamburg und Berlin genannt. Besonders „entlebt“ wirken auf mich die meisten der fotografischen Bilder, die unter der Flagge der „Kunstfotografie“ segeln. Wohlgemerkt: „Lebendigkeit“ war einst eine markante Kategorie der Kunstkritik. Die Gentrifizierung korrespondiert mit der Sterilität der Kunstfotografie. Wahrscheinlich stecken äquivalente soziokulturelle Antriebskräfte dahinter. Vor einigen Jahrzehnten, als die Fotografie nach Anathema in deutschen Kunstmuseen war, galt „Kunstfotografie“ als verpönter Begriff. Hilla und Bernd Becher hätten sich nie als solche apostrophiert. Inzwischen ist der Streit um die künstlerische Legitimität des technischen Mediums ausgestanden. Nicht unbedingt zum Vorteil der Fotografie. Während sich der fotografische Journalismus, der in den vergangenen Jahren weitgehend seine materielle Basis verloren hat, sozusagen „neu erfand“ und nicht selten Bilder erzeugt, die im Petzoldschen Sinne „gesehen haben“ und einen überraschenden Zugang zur Welt eröffnen, hat der Erfolg im Kampf um künstlerische Anerkennung die ästhetisch ambitionierte Fotografie korrumpiert.

Ich habe die fotografischen Impressionen banalster Alltagsdinge schon lange über. Ebenso wie die visuellen Umsetzungen melancholischer Befindlichkeiten des fotografierenden Ich, mit ausgedehnter Introspektion, vorzüglich von jüngeren Vertretern, deren Erfahrungsraum notwendigerweise eng begrenzt ist. Am schlimmsten indes ist die Attitüde eines emphatisch zur Schau getragenen Kunst-Wollens. Äußerlich manifest durch übergroße Formate in Diasec oder Alubond; durch endlose Wiederholungen des Immergleichen à la Sanderbecherevans, ohne zwingende optische Begründung; durch formale Selbstreferenzen mit der Behauptung des „Konzeptuellen“ oder „Konzeptionellen“. Tatsächlich Zeugnisse von dürftigem ästhetischen Ertrag und im besten Fall Pastiches. Eine Idee, die Klischees zu transzendieren, enthalten sie nicht.

Dennoch wäre es falsch, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es die originellen, radikalen, die größenwahnsinnigen Bilder nicht. Als seien bloß ihre Urheber größenwahnsinnig, die Megastars der Szene, und als würden die „Mittelmaßmeister“ (FAZ) die Leitmelodie der „Fotokunst“ pfeifen. Es gibt sie, aber sie fallen durch das Raster von Klischee gesättigten Erwartungshaltungen. Ein paar willkürliche Beispiele aus deutschsprachigen Ländern zum Trost am Ende: das größenwahnsinnige Lebensprojekt „Time Scape“ von Michael Ruetz, die intelligente Erweiterung des Porträtgenres von Carina Linge, die langjährige Exploration des Ichs als erschreckend multiples Wesen von Irene Andessner, die beziehungsreiche „Aktualisierung“ des Gesellschafts-Atlas von August Sander durch Albrecht Tübke.... Bilder, die gleichzeitig in Vergangenheit und Gegenwart operieren – radikale Zeit-Bilder. Auch diese Bilder sind flach, doch ihre Welt ist keine Scheibe.

© Klaus Honnef