Glaubst Du noch oder siehst du schon? Die Essener Ausstellung „Wirklich wahr“ fragt nach dem Realitätsgehalt von Bildern und stiftet produktive Verwirrung (2004)

Die Welt, 12. August 2004

Ein potentieller Käufer, von Picasso im Atelier herum geführt, kritisierte dessen gebrochene Darstellung von Menschen und präsentierte, um einen Beweis gebeten, wie diese seiner Meinung nach korrekt ausfallen müsse, das fotografische Porträt seiner Angetrauten. Nach intensiver Musterung des Bildes habe der Maler geantwortet: „Aha, das ist ihre Frau. So klein ist sie. Und so flach!“ Heinz von Foerster überliefert die Anekdote in einem Buch mit dem provokanten Titel „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, und die beiden Kuratoren Sigrid Schneider und Stefanie Grebe zitieren sie genüsslich in der inspirierenden Ausstellung „Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien“ des Ruhrlandmuseums in Essen.

Im Zeichen einer fortgeschrittenen Mediengesellschaft dürfte eigentlich niemand anders als der scheinbar naive Meisterkünstler auf eine fotografische Aufnahme reagieren. Denn die Differenz zwischen Motiv und seinem Abbild springt förmlich in jedes Auge. Gleichwohl galten und gelten Fotografien nach wie vor in besonderem Maße als realitätskonform und wirklichkeitswirksam, und nur gelegentlich erheben sich laute Zweifel, wenn sie als untrügliche Beweise in verschiedenen Prozessen des Daseins aufgeboten werden. Vom Unfall- über das Such- bis zum Gräuelfoto. Das Urlaubsfoto der Touristen dokumentiert nach allgemeiner Ansicht ihre Anwesenheit am Eiffelturm stichhaltiger als der Erwerb einer Postkarte des Monuments. Selbst ein Bundespräsident mischte sich einmal in eine mit allen erdenklichen fotografischen Beweisen ausgestattete Diskussion um ein tatsächliches oder vermeintliches Tor, als die deutsche Fußballnationalmannschaft noch in Endspiele gelangte. Und in Großbritannien war die Öffentlichkeit so erleichtert, dass sich die Bilder folternder britischer Soldaten im Irak rasch als Fälschungen entpuppten, dass die Frage nach möglichen Verstößen auch ihrer Truppe prompt verstummte.

Aus welchen Grund gewähren die Menschen der Fotografie einen solchen Kredit? Ganze Bibliotheken wissenschaftlicher Analysen haben zu erklären versucht, dass die Zeichen, die eine Fotografie von der sichtbaren Welt festhält, kraft ihrer spezifischen Technik nicht willkürlich sondern zwangsläufig, gleichsam physisch mit den abgebildeten Gegenständen verbunden sind. Im Gegensatz zu den handwerklich geschaffenen Vergegenwärtigungen. Doch erklärt dies nur unzureichend, weshalb wir fotografische Bilder für wahrer im Sinne von wirklichkeitsgetreuer halten als gemalte oder gezeichnete. Dabei waren die Gläubigen vormoderner Zeiten in Europa davon überzeugt, in den standardisierten Ikonendarstellungen von Christi und seiner Mutter Maria die Abgebildeten leibhaftig vor sich zu sehen.

Unbeschadet aller kritischen Einwände, schrieb der Filmkritiker André Bazin, bliebe uns nichts weiter übrig, als an die Existenz der im fotografischen Bild „re-präsentierten“ Dinge zu glauben, und Roland Barthes spricht in seinem Buch „Die helle Kammer“ sogar von einem magischen Verhältnis. Gegen Magie und Glauben ist jedoch kein Kraut gewachsen, und darum vermag auch die bestechend intelligente und sorgfältig erarbeitete Ausstellung „Wirklich wahr!“ trotz gut platzierten Gegenzaubers mit trefflichen Beispielen an dem augenscheinlich menschlichen Urbedürfnis nach Illusion nichts zu ändern. Dafür stiftet sie Verwirrung, produktive Verwirrung indes, und nicht zu knapp, indem sie die künstlichen Unterscheidungskriterien der verschiedenen fotografischen Disziplinen als ebenso fragwürdig erscheinen lässt wie das gemeinhin unterstellte „Realitätsversprechen von Fotografien“: Angebliche Reportagebilder vom Krieg sind in Wahrheit Bestandteile einer Werbekampagne, sozialkritische Dokumentaraufnahmen vom Horror des Alltagslebens penibel inszenierte Mode- oder Kunstfotografien, und einfache, „authentische“ Amateuraufnahmen verwandeln sich unversehens in Zeugnisse mutmaßlicher ästhetischer Bestrebungen. Ohne die Hilfe der Bildlegenden würden die Betrachter in die meisten der aufgestellten optischen Bildfallen tappen. Vermitteln die Unterschriften aber die Wahrheit?

Nichts desto weniger schickt die erfrischend übersichtliche Schau, die Fotografie in zahlreichen ihrer Anwendungsweisen demonstriert, alle vordergründigen Thesen von der Realitätsnähe und -dichte zeitgenössischer Kunstfotografie, wie sie etwa die gegenwärtig zirkulierende Ausstellung „Cruel and tender“ vertritt, als leere „Realitätsversprechen“ ins Reich der Spekulation. Wahrscheinlich ziehen wir im Endeffekt das Maß an Realitätserfahrung, das wir in die fotografischen Bilder und abhängig von ihrem jeweiligen Kontext projizieren, auch aus ihnen wieder heraus. Noch entspricht das Medium dem kollektiv vorherrschenden Bild der Realität. Nur nach Maßgabe seiner Bilder besitzen dank digitaler Technik aufwändig rekonstruierte Dinosaurier im Kino auch ihre „realistische“ Gestalt. Welches Bild die menschlichen Zeitgenossen in grauer Vorzeit von ihnen hatten, weiß tatsächlich keiner.

Wohlweislich spart „Wirklich wahr!“ die Tendenz der Fotografie zur Ikonolatrie aus. Es sind nämlich fotografische und filmische Bilder in ausgepichter Stilisierung, die Menschen aus der Sphäre der Unterhaltungsindustrie säkulares Verehrungspotential mit hohem Wirkungsgrad verleihen. Von Leinwandgöttern und war einst die Rede. Selbst banale Konsumartikel profitieren gelegentlich von der Aura des Fotografischen. Vielleicht ruft diese Eigenschaft des Mediums das unverminderte Verlangen hervor, fotografiert zu werden oder sich selbst zu fotografieren. Mit dem „klassischen“ Porträt, das vorgab hinter die Fassade der Porträtierten zu leuchten, haben solche Bilder nichts gemein.

Das Ergebnis eines Wettbewerbs des Kölner Forums für Fotografie, das dessen ungeachtet nach „dem“ fotografischen Porträt fahndete, demonstriert nachdrücklich, dass sich die Vorstellung vom Bildnis einschneidend gewandelt hat. Es sind kaum unterscheidbare Durchschnittgesichter, die den Betrachtern begegnen, selten „Charaktere“. Wer indes genauer hinschaut, entdeckt, dass sie ein völlig diffuses Identitätsmuster entfalten, eines, das sich in Nuancen äußert und seine Unverwechselbarkeiten aus fast versteckten Signalen der Gruppenzugehörigkeit, sozialen Schicht, des örtlichen Umfeldes und der Mode, des Films und der Fotografie bezieht. Das „Realitätsversprechen“ der Fotografie verheißt allen, die fotografiert werden, jenen Augenblick, wo sie sich scheinbar über die Zwänge ihrer Alltäglichkeit erheben können.

© Klaus Honnef

Die Avantgarde war eine Episode. Zwei Ausstellungen erklären die Fotografie zum trojanischen Pferd für die Tradition (2004)

Die Welt, 16. Juni 2004

Was Skylla und Charybdis für den listenreichen Odysseus, waren Mode und Museum für die allmählich verdämmernden Kunst der Moderne. Drohten dem Sieger über Troja Meerungeheuer und Höllenstrudel zugleich, sah sich die modernistische Kunst gezwungen, zwischen der Doktrin beständiger Erneuerung und dem konträren Verlangen nach ewiger Dauer zu manövrieren. Das spannungsvolle Verhältnis löste sich erst, als das Museum am Ende des vergangenen Jahrhunderts über die Mode triumphierte und sie sich einverleibte. Seither beschränken sich beide Agenten westlicher Kultur im Wesentlichen auf die Variation immer schneller auf- und ablebender Blütenmuster.

Während das Museum of Modern Art in der Berliner Nationalgalerie noch einmal die Fama der heroischen Moderne feiert und im heimischen New York längst deren Revision erprobt, haben sich derweil die meisten Museen Europas von der einseitigen Sicht auf die Kunst aus dem Blickwinkel der Avantgarde mehr oder weniger stillschweigend verabschiedet. In den jüngeren Zeugnissen der Werteskala zeitgenössischer Kunst überschatten Picasso und Matisse wieder Duchamp und Dada sowie die Vertreter abstrakter samt konzeptueller Tendenzen. Figurative Maler wie Bacon, Balthus, Baselitz, Freud, Fischl und Pearlstein gehören jetzt zum Kernbestand und haben den Ruch der Außenseiter verloren. Neben sie treten mit wachsender Anzahl und wachsendem Gewicht die Namen von Professionellen der einst gering geschätzten technisch-kommerziellen Künste Fotografie und Film wie Bũnuel und Hitchcock, Edward Steichen und Helmut Newton, ganz zu schweigen von Modedesignern wie Saint Laurent und Armani.

Im Vollzug des kulturellen Wandels fiel dem Medium Fotografie die Rolle des trojanischen Pferdes zu. Zwar verdankt sie sich anders als die hölzerne Kriegsmaschine nicht dem Einfall eines einzigen Mannes wie dem Helden von der griechischen Insel Ithaka, sondern eher einer besonderen historischen Konstellation, der Erwartungshaltung einer sich entfaltenden Industriegesellschaft. Lediglich der Ruf, ein Instrument der Täuschung zu sein, ist Ross und Medium gemeinsam. Aber im Gegensatz zur Kunst der Avantgarde, die lauthals den Bruch proklamierte, knüpfte die Fotografie unbeschadet ihrer unterschiedlichen Technik in ästhetischer Hinsicht von vorneherein an die Ausdrucksformen der Kunst vor dem Aufbruch der Moderne an und setzte ihre Tradition fort. Eine Kunst um der Kunst willen war die Fotografie – von einigen Ausnahmen abgesehen – nie. Nicht einmal in ihrer kurzen avantgardistischen Phase, deren Bildleistungen ohnehin rasch Beute der Werbung wurden. Vielmehr stets eine Kunst, die in puncto professioneller wie privater Nutzung tief in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden ist und deshalb ihren Gegenstand, so Siegfried Kracauer, auch nicht „vollständig verzehrt“. Dementsprechend erschöpfen sich fotografische Bilder nicht in purer Selbstbezüglichkeit. Sie stellen immer etwas dar, das sie nicht selber repräsentierten.

Als vor rund dreißig Jahren die Museen auf breiter Front die Fotografie zur Kunst promovierten, folgten sie einer verbreiteten Ansicht, der gemäß Kunst ein unwandelbarer Begriff ohne Verfallsdatum ist und sich allein aufgrund eigener und im Prinzip unwandelbarer Gesetze legitimiert. In der üblichen Verwechslung von Zweck- und Nutzlosigkeit übersah man, dass die fotografischen Bilder den herrischen Kunstanspruch des Modernismus relativierten. Nicht ästhetische Autonomie verkörperten sie – sie proklamierten unverhohlen einen ästhetischen Revisionismus. Was die Avantgarde auf den Speicher der Geschichte verbannt hatte, bewahrte sich in der Fotografie: die alten Gattungen der Kunst wie Porträt, Landschaft und Stillleben, kurzum, der verpönte Inhalt samt den vielfältigen Facetten der sichtbaren Realität.

Dass die Avantgarde womöglich nur eine unwichtige Episode in der Geschichte der Kunst war, wie der Kunsthistoriker Martin Warnke behauptet, unterstreicht aufs Eindrücklichste die reich bestückte Sommer-Ausstellung „Das Geheimnis der Photographie“ im Alten Rathaus von Ingelheim. Sie ist, nachdem im vorigen Jahr das Porträt zur Debatte stand, dem Thema „Landschaft & Stilleben“ gewidmet. Bemerkenswert ist die Ausstellung nicht allein wegen der Qualität ihrer Bilder, bemerkenswert ist sie deshalb, weil sie die Bildwelt des 19. direkt in die des 21. Jahrhunderts münden lässt. Die Linie der Kontinuität verläuft von Hill/Adamson, Le Gray und Watkins ungebrochen bis Gursky, Hütte, Nieweg und Sasse aus der berühmten „Becher-Schule“. Die fotografische Avantgarde spart die Ausstellung bewusst aus. Dafür nennt der Katalog die profilierten Pioniere der Fotografie ehrfürchtig „Meister“.

Gleichwohl fristen sie als Künstler in der geschriebenen Geschichte der Kunst allenfalls eine Fußnotenexistenz. Doch wer käme auf die Idee, Cézanne oder van Gogh als „Meister“ zu apostrophieren? In der Biografie Steichens findet sich denn auch kein Hinweis, dass der ehemalige Chef der Luftaufklärung des amerikanischen Expeditionskorps‘ anno 1917 später als höchst bezahlter Fotograf seiner Zeit das Geschäft der Modefotografie industriell betrieb.

Den durchschlagenden Erfolg des Mediums krönt die rasant anschwellende Anerkennung der „klassischen“ Fotografie der frühen Jahre. Vor geraumer Zeit kündigte die Messe „Paris Photo“ sie bereits an. Ihre Bedeutung demonstriert eine üppig ausgestattete Ausstellung der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München mit dem Titel „Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert“. Sie versammelt eine Fülle erstklassiger Bilder von Fotografen, die noch technische Erfinder ihres Metiers waren. Angesichts des Aufgebots an Fotografien verblassen die gezeigten Gemälde und Zeichnungen. Im Vergleich zur Ingelheimer Ausstellung entschied sich Kurator Ulrich Pohlmann indes für eine differenziertere Sicht. Einerseits beschränkte er sich strikt auf die Pionierphase, andererseits dehnte er das Feld der Fotografie über das enge Terrain der Kunst auf ihre Anwendung in Kunst, Wissenschaft und Publikationsmarkt aus, betont mithin ihre gesellschaftliche Dimension. Damit öffnet er – je nach Perspektive – den Blick für das Neue oder das Alte der Fotografie im Rahmen der Kunst. Im Focus einer solchen Optik entpuppt sich die Avantgarde plötzlich als „out of fashion“ und ähnlich antiquiert wie die Mode von gestern, die ebenfalls zum Stoff des Museums geworden ist.

© Klaus Honnef

Von Hieronymus Bosch zu George Bush: Bilder haben eine irrationale Macht. Sie sind stärker als die Rationalität der Sprache (2004)

Die Welt, 13. Mai 2004

Er kam vom Himmel im modernen Heldendress und verkündete zur besten Fernsehzeit auf einer schwimmenden Festung das Ende der Kämpfe. Seine bildbewussten Helfer inszenierten den amerikanischen Präsidenten als Wiedergänger des Heilands christlicher Mythologie. Ob sie die Kameras der ausgewählten Sender vordergründig nach dem Muster eines Hollywood-Spektakels, Tony Scotts „Top Gun“, postierten, ist nebensächlich. In Wahrheit beschworen sie wie der Filmregisseur weit ältere Bilder, Bilder der Kunst, Bilder des Mensch gewordenen Gottessohns, der mit seinem leiblichen Tod die Menschheit erlöst hat, um am jüngsten Tag auf die Erde zurückzukehren und den Gerechten den Weg ins Paradies und den Ungerechten den abschüssigen Grat in die Hölle zu weisen. Kirchenfürsten und Klosterherren hatten sie einst in Auftrag gegeben. Vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne erfüllten sie die Aufgabe, die Heerschar der Gläubigen zu einem ehrbaren und gottesfürchtigen Leben anzuhalten.

Und wie die kundigen Bilderproduzenten im Dienst des angeblich mächtigsten Herrn der materiellen Welt wandten ihre Urheber, die großen Maler ihrer Zeit, alle verfügbaren Kniffe der Bildrhetorik an, die Adressaten der Botschaft ihrer Bilder mit der Macht ihres Bildvortrags zu beeindrucken, zu überreden, gegebenenfalls zu überwältigen, und sie scheuten sich nicht, Furcht und Schrecken zu säen. Gerade einmal ein Jahr nach der Friedensbotschaft hat das Bild des säkularen Heilsbringers empfindliche Risse bekommen. Nicht allein, weil es zu den tatsächlichen Verhältnissen im angeblich befriedeten Land in schreiendem Gegensatz steht. Seine Wirkung haben vielmehr andere Bilder gebrochen, Bilder von Menschen, die ihrer Würde gänzlich beraubt worden sind, und nebenbei den zutiefst blasphemischen Charakter der Bilder des profanen Fliegergottes enthüllen. Niemand bezweifelt, dass die fotografischen Aufnahmen der Folterungen irakischer Soldaten authentisch sind.

Doch es ist weniger ihre Echtheit, die ihnen die ungeheure Eindrucksmacht verleiht, sondern die Art der Inszenierung des Entsetzlichen. Dadurch erscheint die Tat doppelt verwerflich. Die Autoren der Bilder haben ihre unbekleideten Opfer augenscheinlich für die Optik der Kamera zugerichtet, und es ist wohl unzweifelhaft, dass die grausamen Bilder von vorneherein zur Veröffentlichung bestimmt waren.

Einige der Fotografen bezeugen ein ebenso profundes Gespür für prägnante Bildwirkungen wie die Regisseure ihres Präsidenten. Auch diese Bilder verdanken sich bezeichnenderweise dem Repertoire der Kunstgeschichte, gleichgültig, ob sie bewusst oder unbewusst in Anspruch genommen wurden, und es ist der bitteren Ironie des Weltgeistes geschuldet, dass sich die Darstellungen der erbarmungswürdigen Wesen in menschlicher Gestalt auf denselben apokalyptischen Bildern befinden, auf denen der Weltenrichter die Guten von den Bösen scheidet.

Als die Verdammten tauchen sie dort auf, teils mit fratzenhaften Köpfen versehen, teils an der Leine geführt wie Hunde, ihre Körper zu Pyramiden gehäuft und meistens nackt. Haben die Fotografen das unvollständige Bild der Regisseure des Präsidenten also letztlich nur im Geiste der apokalyptischen Gemälde von Künstlern wie Stefan Lochner oder Hieronymus Bosch unfreiwillig ergänzt, nicht wissend, dass die Vorstellungen, die sich in ihnen spiegeln, kraft historischen Wandels relativiert worden sind und inzwischen nicht bloß in muslimischen Gesellschaften Wut und Fassungslosigkeit provozieren? In der Logik einer Doktrin, die sich auf die fundamentalistische Idee eines Kreuzzuges gegen „Schurkenstaaten“ beruft, wäre die Vermutung nichts desto weniger nahe liegend. Gleichwohl drohen die schrecklichen Bilder der gedemütigten Gefangenen das hehre Bild des Erlöser-Präsidenten allmählich auszulöschen. Dessen clevere Bildstrategen müssten schon erheblich stärkere Bilder mobilisieren, um ihren verheerenden Eindruck noch neutralisieren zu können. Etwa das Bild eines Kniefalls, wie ihn der deutsche Kanzler Willy Brandt in Warschau vollführte, oder Bilder aus der Leidensgeschichte Christi.
Woher aber rührt die ungeheure Eindrucksmacht der Bilder über die Wahrnehmung der Menschen? Das Zeitalter der Fotografie, des Films und des Fernsehens hat sie, wie mitunter behauptet wird, nicht erfunden, sondern nur in ungeahnter Weise verbreitet und verstärkt. Bereits der erste römische Kaiser vermochte mit Hilfe eines ausgeklügelten Bild-Programms die vorwiegend republikanisch gesonnenen Bürger seines Imperiums zu treuen Anhängern des monarchischen Prinzips zu machen. „Augustus und die Macht der Bilder“ lautet der Titel eines aufschlussreichen Buches des Archäologen Paul Zanker, das den Prozess schildert.

Gerade die Bilder mit mythologischem Bodensatz und hoher Symbolkraft, die namentlich amerikanische Quellen gern lancieren, um militärische Siege zu illuminieren, und deren grauenhafte Pendants häufig die Siege in politische Niederlagen verwandeln, sind tiefer im psychischen Haushalt der Menschen verankert als gemeinhin vermutet wird. Bilder wie jenes des weinenden napalmverbrannten nackten Mädchens auf einer Straße in Vietnam standen am Anfang des Rückzugs der amerikanischen Soldaten aus dem südostasiatischen Land, andererseits Bilder der stürzenden Türme des World Trade Centers in New York, der Türme des modernen Babylons, am Beginn des „Krieges gegen den Terror“.

Auch inflationärer Gebrauch durch ständige Wiederholung in den Massenmedien mindert ihre Macht nicht. Es scheint im Gegenteil, als ob ständige Wiederholung und Variation sie seit ihrem ersten Aufleuchten in vorhistorischen Epochen den menschlichen Genen eingeschliffen hätten und sie nach entsprechenden Impulsen stets von neuem ihre Gewalt über das Denken entfalten würden. Vor der irrationalen Macht dieser Bilder offenbart die Rationalität der Sprache, lehrte der Kunsthistoriker Ernesto Grassi, regelmäßig ihre Ohnmacht.

© Klaus Honnef

Herold eines postmodernen Biedermeier. Die Fotografie ist auf dem besten Wege, in gefälliger Harmlosigkeit zu versinken (2002)

Die Welt, 24. April 2002

War die Avantgarde nur eine kapriziöse Laune der Kunst? Mit der Absicht, das Publikum zu verlachen? Sind ihre Verächter zu Unrecht als Reaktionäre gebrandmarkt worden? Hat sich ein mafiotisch operierender Kunstbetrieb verschworen, mehr als ein Jahrhundert lang die wahren Kunstwerke zugunsten leichtgewichtiger Kunstmätzchen zu unterdrücken? Wer sich so unbefangen wie überhaupt möglich in der zeitgenössischen Kunstszene umtut, vermag solche oder ähnliche Fragen kaum noch zu verdrängen. An den makellos weißen Wänden vieler privater und öffentlicher Galerien prangen Bilder von Blumen in leuchtenden Farben, atemberaubende Landschaften lassen im Riesenformat grüßen, alltägliche Gegenstände finden sich in bestechenden Arrangements und Menschen in sorgfältig inszenierten Posen. Die traditionellen Gattungen der Kunst, Porträt, Landschaft, Genre und Stillleben, die überlieferten Konventionen der Malerei, triumphieren über Montagen und Installationen. Als hätten Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Dada, Happening und Antikunst sie niemals mit ungeheurer Wucht verformt oder gar zertrümmert. Mit dem Unterschied allerdings, dass die alten Zöpfe im Medium Fotografie ihre Renaissance erleben.

Ausgerechnet in der Fotografie. Deren Kredit und Erfolg speiste sich einmal aus dem Umstand, dass sie die Welt der Bilder unmittelbar mit der sichtbaren Wirklichkeit samt ihren Schattenseiten verknüpfte. Einflussreiche Künstler der Avantgarde waren überzeugt, mit Hilfe fotografischer Technik dem, was man für eine nicht hintergehbare Wahrheit im individuellen und kollektiven Dasein hielt, näher zu kommen als mit den „historisch überholten“ handwerklichen Mitteln der Malerei und wechselten die Seiten. Später entdeckte man umgekehrt in zahlreichen professionellen Fotografen regelrechte Künstler. Augenscheinlich befriedigte die Fotografie den Hunger nach Wirklichkeit, den die Gesellschaft des Industriezeitalters erfüllte, und erweiterte das Spektrum ihrer Wahrnehmung. In fotografischen Bildern entdeckten die meisten US-Amerikaner das eigene Land, mit fotografischen Bildern prangerten engagierte Bildreporter soziale Missstände an und beförderten Maßnahmen zur Abhilfe, fotografische Bilder vom Krieg brannten sich in das allgemeine Bewusstsein und untergruben die Behauptung der Propaganda, dass es süß sei, für das Vaterland zu sterben. Von Fotografie als Waffe im politischen Streit war die Rede, und Siegfried Kracauer, der große Kulturkritiker, meinte, wenn Fotografie überhaupt eine Kunst sei, dann eine, die ihren Stoff im Gegensatz zu einer selbstbezüglichen Kunst nicht völlig verzehre.

Seit die Fotografie das Terrain der Malerei, ja der Kunst schlechthin, erobert und sich als neue Königsdisziplin in den Galerien und Museen etabliert hat, erscheint ihr diese Vergangenheit schon beinahe so peinlich wie dem Partygänger der Schmutzfleck auf seinem Smokinghemd. Zugleich schickt sich die Fotografie der Künstler an, sämtliche vorgeschobenen Positionen der zeitgenössischen Kunst rückgängig zu machen – vom Entwurf der abstrakten Malerei bis zur „Ausfransung“ (Theodor W. Adorno) in flüchtige Erscheinungsformen, die nur noch ein zersplittertes Bild der Wirklichkeit übermittelten.

Bei genauerer Betrachtung ist die Großbildfotografie der Gegenwartskunst tatsächlich nicht frei von Spuren eines ästhetischen Revisionismus. Nicht nur, dass sie völlig unverfroren die harmlosen Motive vergangener Kunstidyllen wiederbelebt und zu überwältigenden Dimensionen aufbläst. Auch die Sicht auf die abgelichtete Welt ist häufig ebenso wenig von des kritischen Gedankens Blässe angekränkelt wie die Art und Weise, in der ihre Gegenstände vergegenwärtigt werden. Während die Dinge ringsum aus dem Ruder laufen und ethische und moralische Grundsätze im Sog kommerzieller Interessen ihren bindenden Charakter verlieren, fotografieren die Stars der deutschen Kunstszene Bäume, Blumen, adrette Straßenpassanten, Häuschen und Lampenschirme, schicke Pornos mit Weichzeichnerlinse und die Lichter der Großstädte aus der Vogelperspektive. Die Welt in diesen fotografischen Bildern ist schön wie auf der Fototapete im nächsten Thai-Restaurant. Der Begriff „Kitsch“ hat seine abschreckende Wirkung eingebüßt, und der eventsüchtige Kunstbetrieb applaudiert erleichtert.

Endlich vorbei die Zeit einer problemorientierten Kunst mit ihren anspruchsvollen und spröden Zeugnissen. Die Großfotos verkaufen sich blendend. Die Sammler rangeln, wie Kunsthändler auf der letzten Art Cologne berichteten, um die in kleinen Auflagen produzierten Bilder. Selbst die harten Marktests der jüngsten Auktionen in New York und London bestanden sie allen Unkenrufen zum Trotz glanzvoll. Manche mit frischen Rekordpreisen. Die amerikanische Kunstkritik hat eine „Neue Düsseldorfer Schule“ ausgerufen, weil die erfolgreichsten der Fotokünstler an der dortigen Kunstakademie bei Bernd Becher studiert haben, und verleiht in Anspielung auf die Namen ihrer prominentesten Vertreter Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth der Gruppe spöttisch die Trademark „Strutzkys“. Die deutsche Kunstkritik sieht hingegen einen neuen Akademismus heraufdämmern.

Eine Ausstellung des Düsseldorfer Museums Kunst Palast unter der verkorksten Schlagzeile „heute bis jetzt“ demonstriert nachhaltig, dass sich so etwas wie Wirklichkeit allein in den störenden Reflexen der Betrachter auf den spiegelnden Oberflächen der flächendeckenden Aufnahmen einstellt. Lediglich die Bilder von Hilla und Bernd Becher, Candida Höfer, Ruff und Gursky zeigen den Willen, dem schönen Schein der Bilder einen doppelten Boden einzuziehen. Wo sich das Elend der Kriege in Nah- und Fernost zur erlesenen Dekoration in Schwarz verfeinert, die Straße als Laufsteg entpuppt und das Meer bloß noch an Yves Kleins blaue Gemälde denken lässt, triumphiert die Technik über die Kunst. Die Subjektivität der künstlerischen Identität bleibt auf der Strecke. Während das Museum zum Schaufenster des kommerziellen Handels verkommt, erweist sich die Fotografie als Herold eines postmodernen Biedermeier. Gleichwohl werden die Künstlerfotografen in dieser sterilen Schau unter Wert verhökert.

© Klaus Honnef

Bernd und Hilla Becher (2002)

Bernd und Hilla Becher. Festschrift. Erasmuspreis 2002, hrsg. von Susanne Lange, Schirmer/Mosel, München 2002

Wenn sich angesichts eines Bildes plötzlich die Zwänge lösen, die alle möglichen Erwartungshorizonte ihm vorschreiben, die inneren und die äußeren, und sich gleichsam ein doppelter Boden auftut, blitzt untrüglich künstlerischer Geist auf. Für Skulpturen, Zeichnungen und Bildensembles gilt das Gleiche. Dank dieses – selten gewordenen - Momentes gehören die fotografischen Bilder von Bernd und Hilla Becher zur Domäne der Kunst. Zwar bestreitet niemand (mehr), dass sie künstlerische Ansprüche souverän erfüllen. Aber es hieße doch, einen entscheidenden Punkt im Beitrag des deutschen Fotografen- und Künstlerpaares zu verfehlen, wenn man sich mit einer diesbezüglichen Feststellung begnügte. Wer lediglich die spezifisch künstlerischen Elemente in den fotografischen Aufnahmen, die meist zu Reihen, Sequenzen und Tableaux gefügt werden, hervorhebt, übersieht das genuin fotografische Erbe, das sich optisch und strukturell nicht minder prägnant behauptet. Siegfried Kracauer, der große Theoretiker der Fotografie, der erst spät als Historiker zum vollen Verständnis des Mediums gelangte, erkannte der Fotografie nicht von ungefähr einen besonderen künstlerischen Status zu: „Gesetzt, Photographie ist eine Kunst, dann eine Kunst, die anders ist: im Gegensatz zu den herkömmlichen Künsten darf sie sich rühmen, ihr Rohmaterial nicht gänzlich zu verzehren.“

Die Gegenstände des Fotografierens spielen in den Bildern von Bernd und Hilla Becher eine beherrschende Rolle. Sie als bloße Vorwände ästhetischer Explorationen zu betrachten, würde bedeuten, die Absichten der beiden Autoren gründlich miss zu verstehen. Die technischen Architekturen, die Wassertürme, Gasbehälter und Hochöfen, die Fördertürme und Fabrikanlagen, denen sie umfangreiche Monografien gewidmet haben, bestimmen maßgeblich die charakteristische Ästhetik ihrer künstlerisch-fotografischen Unternehmungen. Zudem reflektieren sie das technische Medium in zweifachem Sinne: einerseits als industrielle Zeugnisse der gleichen Vorstellungswelt, die auch die Fotografie hervorgebracht hat, andererseits als sozusagen vergegenständlichte Entsprechungen der fotografischen Bildmechanik. Thematischer Vorwurf und Träger der anschaulichen Wiedergabe verschränken sich auf einer kulturellen Ebene.

In der Fotografie hat sich die Wahrnehmung der technisch und industriell geprägten Zivilisation der Moderne objektiviert. Absolute Präzision in der Wiedergabe, radikaler Verzicht auf schmückende Ornamente, strikt neutrales Licht, das die konstruktiven Details und Zusammenhänge der fotografierten Motive offen legt, und die nüchterne Sachlichkeit in der Wahl des Blickwinkels aus Augenhöhe sind die äußeren Merkmale einer scheinbar kunstlosen, aber eminent fotografischen Ästhetik. Einsicht in das konstruktive Prinzip der fotografierten Gegenstände zu vermitteln, ist erklärtes Ziel der Autoren. In ihrem Werk entfalten sie die ästhetischen Positionen der avancierten Fotografie zur höchsten Perfektion und setzen die Tradition des „Neuen Sehens“, die sich in den Namen von August Sander, Karl Blossfeldt, Werner Mantz und – partiell – Albert Renger-Patzsch verkörpert, konsequent fort - allerdings modifiziert durch den texturalen Strukturalismus eines Walker Evans. Gleichwohl geht die Kunst ihrer Aufnahmen nicht vollständig in der Fotografie auf. Auch sie manifestiert sich unübersehbar als Eigenwert, ohne jedoch die Funktion des Widerparts zu besetzen. Dabei knüpfen die Bilder von Bernd und Hilla Becher nicht – wie Fotografien im Allgemeinen – an Prämissen der Malerei an, sondern sie erweitern die Zweidimensionalität bildnerischer Darstellung um eine skulpturale Dimension. Ursprünglich hatten die Fotografen-Künstler die Objekte ihrer fotografischen Darstellung „anonyme Skulpturen“ genannt. Deren plastische Wirkung ist das Ergebnis des angewandten Inszenierungsmodus der einzelnen Bilder zu sorgsam entwickelten Zyklen. Namentlich das Prinzip, die Aufnahmen sowohl nach typologischen als auch nach Gesichtspunkten der greifbaren Erscheinung anzuordnen, relativiert die Abbildeigenschaft des Fotografischen und unterstreicht die Autonomie der vergegenwärtigten Motive. Zeichen und Bezeichnetes fallen zusammen. Bernd und Hilla Becher verwandeln funktionale Industriearchitekturen, die ihre praktische Funktion verloren haben, in Gegenstände der ästhetischen Anschauung. Ihre historische Zeugenschaft büßen diese dennoch nicht ein. Das künstlerische Werk der Bechers siedelt in einer Sphäre der Intermedialität, die es zugleich thematisiert. Es ruht auf fotografischem Fundament. Darüber hinaus vereint es Gegebenheiten der Skulptur, der Architektur, des Films und einer zeichenhaften Körpersprache. Es sprengt die kategorialen Grenzen stilistischer oder sonstiger Bestimmung und eröffnet dem Diskurs über die Welt der Bilder ein noch unerschlossenes Terrain.

© Klaus Honnef

Kunst und Kommerz. Ein Verhältnis und seine Konsequenzen (2002)

Haushaltsbericht 2000/2001 der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarbrücken, Januar 2002

Als „durch und durch kommerziell“ beschrieb der Kritiker Eduard Beaucamp den Kunstbetrieb zu Beginn des 21. Jahrhunderts und löste nicht einmal leisen Widerspruch aus, geschweige denn Protest. Entspricht seine Beobachtung den Tatsachen, würden im Kunstbetrieb vornehmlich Gegenstände zirkulieren, deren Warenwert Vorrang vor allen möglichen anderen Werten hat, dem ästhetisch-künstlerischen zum Beispiel. Dem Moment der maximalen Verkäuflichkeit gelte infolgedessen das höchste Interesse (der Künstler wie der Abnehmer). Obwohl der zitierte Kritiker linker Neigungen unverdächtig ist, bestätigte er nur, was antibürgerliche Analysten in den wild bewegten sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Kunst à la mode bereits damals nachsagten. Nicht allerdings, ohne dass sich massive Ablehnung äußerte.

War denn nicht gerade die Avantgarde unter strikt anti-kommerziellem Vorbehalt angetreten? Theodor W. Adorno pries die Haltung der „Verweigerung“ gegenüber kommerziellen Verlockungen auch als moralische Größe. Selbst die weitgehend amerikanisch inspirierte Konzept-Kunst hatte sich zum Ziel gesetzt, das vertraute Vermittlungssystem der Kunst zu unterminieren, indem sie ungewohnte Vermittlungsträger wie Fotografie, Film und Video zu nutzen versuchte. Spätestens aber seit die früher eher kunstignorante Wirtschaft die Gegenwartskunst als geeignetes Werbemittel und eine wachsende Anzahl von Sammlern auch noch ihr spekulatives Potential entdeckt haben, hat sich der antikommerzielle Supcon der Kunstszene verflüchtigt. Die zeitgenössische Kunst erfreut sich steigender Preise – mit partiellen Einbrüchen in der Wertschöpfung wie die Börse -, und der Kunstbetrieb unterscheidet sich vom Show-Business allenfalls noch durch seine vergleichsweise schlechte Repräsentanz in den Massenmedien. Nicht zufällig haben sich Fotografie, Film und Fernsehen neben – und im musealen Ansehen vor – den herkömmlichen Techniken auch in der Kunst etabliert, niemand bestreitet den technischen und elektronischen Medien mehr ihre Kunstfähigkeit.

In dieser Entwicklung einen Paradigmenwechsel zu erblicken, ist sicherlich nicht falsch. Vor allem haben sich die Parameter der künstlerischen Orientierung verschoben, obwohl das niemand offen eingesteht. In dem Maße, wie die Verkäuflichkeit ein wesentliches Kriterium des künstlerisch-ästhetischen Bestrebens wird, entfernt sich die Kunst von den Kategorien der Moderne, die außer der prinzipiellen Autonomie des Kunstwerks lediglich noch die Verwirklichung der subjektiven künstlerischen Imagination einbegriffen haben. Vom künstlerischen Ich als einem grundsätzlich frei handelnden Subjekt hat sich der Brennpunkt der künstlerischen Praxis auf die mehr oder minder bereitwillige Erfüllung der Erwartungshorizonte von Kunsthändlern, Kritikern, Museumsleuten und Sammlern verlagert. Statt Subversion ist Anpassung angesagt. So trug man in der Malerei der jüngeren Zeit Streifen, mal vertikal, mal horizontal, farbig und schwarz-weiß, und favorisierte in der Fotografie wandfüllende Landschaften oder Blumenstillleben. Trotz ihrer scheinbaren Motiv- und Ausdrucksvielfalt gab sich die jeweils zeitgenössische Kunst auf den Kunstmärkten der Welt seltsam einheitlich, das Dekorative war Trumpf.

Gleichwohl wäre es in historischer Hinsicht unzulässig, die Wendung der Dinge, welche die Kunst genommen hat, als etwas vollständig Neues auszurufen. Sie belegt vielmehr zunächst nur das Ende eines Kapitels der Kunstgeschichte, eines von vielen, nämlich des Kapitels der Moderne. Bislang hat man die künstlerische Sphäre der Moderne beinahe ausschließlich aus der Perspektive der avancierten Kunst und ihrer blendenden Propaganda betrachtet. Als sie die Kunst der Vergangenheit den gleichen unwandelbaren Prinzipien des ästhetischen Selbstbezugs verpflichtet gewesen wie die Kunst der Moderne, Tizian ein Vorläufer Robert Rymans. Und die Geschichte der Kunst erschien wie selbstverständlich als eine „Erfolgsstory“ der künstlerischen Emanzipation, gipfelnd in der Avantgarde. Die Behauptung des Kunsthistorikers Martin Warnke, nicht die Künstler hätten sich mit dem Aufkommen der Industriellen Revolution und dem Entstehen des kapitalistischen Bürgertums aus der feudalen Fron der Auftragsfesseln befreit, die sie zuvor von der ungehemmten Entfaltung ihrer Vorstellungen abgehalten hätte, sondern die führenden Gesellschaftsschichten hätten sie im Gegenteil aus ihren einstigen Verpflichtung aus Mangel an Bedarf entlassen, ist andererseits keineswegs aus der Luft gegriffen.

In gewisser Weise haben sich die Künstler tatsächlich allein zu sich selbst befreit, und die Aufgaben, die ihnen einst im gesellschaftlichen Verkehr zufielen, gingen an Vertreter weniger prestigegesättigter Professionen wie Marktschreier, Gaukler, Guckkasten- und Dioramenbetreiber über, aus denen dann die Werbegrafiker, die Fotografen und Filmproduzenten im weitesten Sinne, die Entertainer und die kommerziellen Kommunikationsdesigner wurden. Zwar beäugt der Kunstbetrieb diese nach wie vor noch mit einem leichten Überlegenheitsgefühl, doch die Abwehrfront bröckelt längst, weil sich die Gemeinde der Kunst-Kunst-Anhänger beständig verringert und auch die relativ eingeschränkten Möglichkeiten einer unabhängigen Kunstpraxis aufgrund fehlender gesellschaftlicher Resonanz erschöpfen.

Nicht allein, dass die kommerzielle Sprache der Konsumkultur die Werke der ambitionierten Kunst inspiriert und mit einer Vitalspritze versehen hat – die profiliertesten Repräsentanten der fotografischen und filmischen oder der Zunft der Videoclip-Entwerfer haben sich im Einverständnis mit den kulturellen Eliten bereits weitgehend den Status künstlerischer Legitimation erworben, und es wird kaum noch geraume Zeit dauern, bis auch die erfolgreichsten Werbedesigner sich die Bildwände der Museen erobert haben, wobei sie sich ohnehin schon auf den Spuren der bekanntesten Modedesigner bewegen. Mit der Konsequenz für die zeitgenössische Kunstszene, dass sich der Künstlerberuf tief greifend verändern und das, was an den Kunsthochschulen als „freie Kunst“ gelehrt und in Ehren gehalten wird, sich alsbald in ein Erinnerungsgut der Kunstgeschichte verwandelt. Damit verlöre die „klassische“ Kunstakademie ihre Rechtfertigung. Für die Kunst gleicht sich die Gewinn- und Verlustrechnung indes aus, hier zählen qualitative Maßstäbe, die sich natürlich auch zugleich mit der Umwälzung auskristallisieren, soweit sie nicht beständig seit Urzeiten variieren. Der bedeutende Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der Liebhaber und ein außerordentlicher Kenner des Kinos war, charakterisierte den Unterschied zwischen kommerzieller und nicht-kommerzieller Kunst einmal so: „Wenn man indes alle Kunst als kommerziell definiert, die primär nicht den Gestaltungsdrang ihres Schöpfers befriedigen, sondern den Ansprüchen des Auftraggebers oder des Käuferpublikums entsprechen soll, dann muss man sagen, dass nichtkommerzielle Kunst mehr eine Ausnahme als eine Regel ist, und eine ziemlich neue und nicht immer glückliche Ausnahme obendrein. Sicher ist kommerzielle Kunst stets in Gefahr, als Hure zu enden, aber ebenso sicher ist nichtkommerzielle Kunst in Gefahr, als alte Jungfer zu enden.“

© Klaus Honnef

Die Kunst verändert ihr Gesicht. Das Documenta-Archiv in Kassel erinnert mit einer Ausstellung an die legendäre Documenta 5 von 1972 (2001)

Die Welt, 5. Dezember 2001

Der Katalog ist so unhandlich wie ein Sack Ziegelsteine. Er gemahnt bewusst an einen überbordenden Aktenordner. Auf seiner orangefarbenen Plastikhülle hat der kalifornische Multimediakünstler Ed Ruscha kunstsinnig eine Handvoll Ameisen in Form einer „5“ verstreut. Das monströse Prachtstück begleitete die fünfte Documenta und ist ihr einziges noch existierendes Zeugnis. Tun als ob, war die Sache von Harry Szeemann, Schweizer „Generalsekretär“ der internationalen Kasseler Großveranstaltung anno 1972 nicht, den seine spektakuläre Ausstellung „When Attitudes Become Form“ in Bern für die Documenta empfohlen hatte. Er und seine Mitarbeiter standen auf Substanz. Auch der Doppeltitel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ ließ keinen Zweifel an der angestrebten Ernsthaftigkeit aufkommen. Die kommerzielle „Eventkultur“ hatte die Kunstsphäre noch nicht vollständig aufgesogen.

Vielleicht gilt deshalb die lapidar als „d 5“ apostrophierte Documenta dreißig Jahre später als das – je nach Einstellung – wichtigste, beste, bedeutendste, zukunftsträchtigste oder auch schönste sämtlicher internationalen Kunstereignisse von Kassel. Ein Mythos ist sie allemal. Von Arnold Bode ins Leben gerufen, um in den Ruinen der örtlichen Museen die Deutschen über die avancierten Wendungen der zeitgenössischen Kunst zu unterrichten, von denen das Naziregime sie abgeschnitten hatte, ist die Documenta nach zehn Neuauflagen trotz heftiger Konkurrenz von Biennalen, Kunstmärkten und sonstigen pompösen Manifestationen der Gegenwartskunst zur unbestritten ersten Adresse im internationalen Kunstbetrieb aufgestiegen. Und die „documenta 5“ hat die Weichen dazu gestellt.

Im Rückblick erscheint sie als letztes Leuchtfeuer der Avantgarde, und der ungeschlachte Katalog dient jüngeren Kuratoren längst als unerschöpflicher Steinbruch, aus dem sie sich mit Anregungen und Bausteinen für eigene Projekte versorgen. Einige wie Catherine David, künstlerische Chefin der jüngsten Heerschau der Kunst im Jahre 1997, berief sich ausdrücklich auf die „d 5“ und erweckte geraume Zeit den Eindruck, auch sie habe sie gesehen. Bis sie auf bohrende Nachfragen einräumen musste, dass sie ihre Eindrücke nur vom Hörensagen hatte. Anderen vergoldet die chronologische Distanz die Erinnerung.

Die Reaktion der Zeitgenossen auf die fünfte Documenta fiel hingegen herber aus. Die meisten Kunstkritiker hielten mit ihrer Ablehnung nicht hinterm Berg, und die Zahl der Besucher blieb weit unter dem Horizont der Erwartungen. Zu heftig kollidierte das Gezeigte mit den umläufigen Vorstellungen über Kunst. Der von vielen derweil als „genial“ gerühmte Generalsekretär wurde sogar auf finanziellen Regress verklagt. Und erst Hans Eichel, der neue Oberbürgermeister in Kassel und gegenwärtig deutscher Finanzminister, befreite ihn aus der existentiellen Bedrohung.

Was verschafft der „documenta 5“ gleichwohl ihren einzigartigen Nimbus, so dass sie ihre Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen überschattet? Das intelligente Konzept, die stupende Qualität der Kunstwerke, die Kühnheit ihres Entwurfs, die klangvollen Namen der Künstler, die einfallsreiche Inszenierung?

Ich bin dabei gewesen, als Kurator, und vermag es dennoch nicht zu sagen. Vermutlich war es von allem etwas. Doch namentlich die krude Mischung aus bestechend klaren und ungeheuer verrätselten, aus Werken in vertrauter und solchen in unkonventionell provozierender Manier, aus Kitsch und Kunst, Plakaten und Untergrundfilmen, aus Information und Chaos, aus Protest und Affirmation, aus Rationalität und Unübersichtlichkeit, gekrönt von Szeemanns ingeniösem Einfall das, was sich nicht mehr auf einen Nenner bringen ließ, als „individuelle Mythologien“ auszuflaggen, befeuert den immer noch wachsenden Nachruhm. Die elitären Vertreter der Konzept-Kunst fanden sich unter dem Banner der „parallelen Bilderwelten“ (Bazon Brock) unversehens mit dem damals berühmten Werbefotografen Charles Wilp wieder, Joseph Beuys mit dem Plakatkünstler Klaus Staeck, die europäischen Selbstdarsteller mit den Fotorealisten aus den USA und die Maler mit Künstlern, die der Malerei das Ende prophezeiten. Ausschlaggebend ist letzten Endes aber wohl der Umstand, dass das Gros der seinerzeit noch recht unbekannten Künstlerinnen und Künstler der „d 5“ inzwischen die Kunstszene repräsentieren.

Zusammen mit dem Düsseldorfer Galeristen Konrad Fischer, der als Konrad Lueg mit Gerhard Richter und Sigmar Polke den „Kapitalistischen Realismus“ ausgerufen hatte, zeichnete ich für die Abteilung „Idee und Idee-Licht“ verantwortlich. Szeemann und, an seiner Seite, Jean-Christophe Ammann hatten mir zwar einen selbständigen Beritt angeboten – „Prozess-Kunst“ –, aber nach knapp drei Jahren Ausstellungspraxis zog ich eine Kooperation mit dem erfahrenen Fischer vor, zumal mich die Ideen- oder Konzept-Kunst stärker interessierte als die Arte povera und verwandte Tendenzen. Vier Wochen hat es gedauert, bis wir die vier Räume auf der Beletage des Fridericianums nach unserem Gusto eingerichtet hatten, darunter die wahre „Kathedrale“ der „d 5“ mit einem großen Zirkel aus Natursteinen von Richard Long in der Mitte und den Zeichnungen Hanne Darbovens und Sol LeWitts, den Gemälden von Robert Ryman sowie den Fotoreihen Bernd und Hilla Bechers an den Wänden. Neben Richard Serras grandioser Raum-Installation einen Saal weiter und Panamarenkos riesigem Luftschiff sowie Bruce Naumans beklemmendem Korridor die zentrale Attraktion der wie stets zu umfangreichen Documenta.

Unbeschadet der üblichen Hektik und des massiven Drucks, den Kunsthandel und Künstler auf die Organisatoren ausübten, und der Streitereien um die besten Plätze vermochten Szeemann und Ammann eine entspannte und heitere Arbeitsatmosphäre zu entfalten. Jede Entscheidung wurde sorgfältig besprochen, intensiv, auch kontrovers diskutiert, und manchmal schlief ich nachts in Harrys Büro nahe bei der Neuen Galerie im Sessel ein, während er sich auf den Schreibtisch bettete. Jeder von uns war überzeugt, dass wir mit der „d 5“ das Gesicht der Kunst verändern würden.

Doch der Gegenwind war scharf. Allein die Säle mit den Bildern der Fotorealisten erfreuten sich verbreiteter Zustimmung, und selbst einen Intellektuellen wie Jürgen Habermas zogen zu meiner nicht geringen Enttäuschung, wie er mir gestand, die großformatigen Foto-Gemälde stärker an als die zerebralen Demonstrationen der Konzept-Artisten, mit denen er nichts anfangen konnte. Der amerikanische Kunsthandel indes zögerte nicht. Leo Castelli sicherte sich die Konzept-Künstler für seine Galerie und Ileana Sonnabend die Bechers und andere für die ihre. Seit der „documenta 5“ sind Texte, Fotografien, Drähte, Filzstoffe, Wackersteine, Asche, absonderliche Gegenstände sowie gewaltige Stahlwände selbstverständliche Werkstoffe der Kunst, nicht weniger als Farbe, Leinwand, Marmor und Holz. Kurzum: die „d 5“ feierte die Apotheose und das Ende der künstlerischen Avantgarde zugleich. Später ist nichts wesentlich Neues mehr in der Kunst passiert.

© Klaus Honnef

Für das Schöne in uns. Jürgen Klauke verführt mit Fotos von atemberaubender Präzision (2001)

Die Welt, 3. April 2001

Immer wieder die gleiche Person, doch nie dieselbe, hundertfach, mal jünger, mal älter, hier ekstatisch bewegt, dort erstarrt, früher in phantastischem Kostüm, später im förmlichen Zweireiher, ein moderner Proteus, und nur im fotografischen Bild gegenwärtig. Jürgen Klauke ist ihr Erfinder, Regisseur und Darsteller, und dennoch hat die Figur Jürgen K. mit der Biografie ihres Urhebers ebenso wenig und soviel zu tun wie die Figur des Josef K. mit dem Schriftsteller Franz Kafka. Mitunter löst sich die Person auf gigantischen Phantombildern auf oder verschwindet, und wenn die Besucher der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, wo das spektakuläre Schauspiel in einer umwerfenden Ausstellung (bis zum 8. Juli) zu sehen ist, den Parcours der zweihundert Bilder und Bildreihen absolviert haben, werden sie vielleicht sich selber entdecken.

„Es sind Bilder für diese oft flüchtigen, unbewussten Begegnungen mit uns selbst bis hin zu den Zulassungen oder Spaltungen – also Bilder für die Schönheit und das Grauen in uns“, versucht der Künstler die Irritationen, die seine Werke auslösen, zu rationalisieren und wirft neue Fragen auf. Es sind fotografische Bilder von bezwingender Gewalt und atemberaubender Präzision zugleich. Ein Rückblick auf mehr als dreißig Jahre künstlerischer Erforschung des Mediums Fotografie, dessen Bedingungen und Möglichkeiten kein anderer Künstler der Gegenwart so umfassend, imaginativ und intelligent ausgelotet hat wie er, und völlig zu Recht widmet die Bundeskunsthalle Jürgen Klauke die dritte ihrer seltenen monografischen Ausstellungen deutscher Künstler nach Gerhard Richter und Sigmar Polke.

Der Auftakt gibt die Leitmelodie an: ein Ensemble von acht mal zwölf fotografischen Bildern identischen Formats mit vermummten Gesichtern, wie sie seit dem Anschlag arabischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft in München durch die Medien geistern. Besondere Kennzeichen keine. Zwei „Porträts“ machen grobe Rasterpunkte unkenntlich, eines könnte das Gesicht des Künstlers sein, der die Gruppe „Antlitze“ nennt und auf die Zeit zwischen 1972 und 2000 datiert. Das Phantasieprodukt eines vertrauten Betrachters? Rechts und links Beispiele aus den Werkgruppen „Pro Securitas“ (1993) und „Formalisierung der Langeweile“ (1980/81), Phantombilder aus einer Durchleuchtungsmaschine und Aufnahmen eines Kopfes, der sich in einem Eimer versteckt. Das fotografische Bild hat die menschliche Identität in eine Vielfalt der Erscheinungen aufgefächert. Lediglich eine Spur bleibt erhalten, und der Körper der Fotografierten als Schattenriss.

„Ich und Ich“ lautet der Titel einer frühen Arbeit. Sie beschloss die Ausstellung „Deutsche Fotografie“ am gleichen Ort, in der sich noch einmal der Glaube manifestiert hatte, das technische Medium Fotografie fixiere die Unverwechselbarkeit von Menschen und Geschehnissen. Nicht von ungefähr hatte sich anno 1839 der Pariser Polizeipräsident für den Ankauf des Patents der fotografischen Pioniere durch den Staat stark gemacht, um es zum allgemeinen Nutzen frei zu geben. Fahndungs- und Passfotos waren die Konsequenz. Mit „Ich und Ich“ aber hat ein neues Kapitel der Fotografie begonnen, das „Ich“ verwandelte sich in ein Bild, in ein Image bestenfalls.

„Mir ging es nie um Fotografie, mir ging es ums Bild“, erläutert der Künstler seine künstlerischen Absichten, und Peter Weibel, wortseliger Coach der imponierenden Soloschau, markiert die Trias von „Körper, Identität und Geschlecht“ als Dreh- und Angelpunkte des Werkes. Natürlich sind das drei Aspekte einer Sache, und Jürgen Klauke ist ihr bis in die feinsten Verästelungen nachgegangen, Körper, Identität und Geschlecht bilden gleichsam das Feld seiner künstlerisch-fotografischen Untersuchungen, das sich, je nach stärkerer oder schwächerer Anziehungskraft des einen oder anderen Magneten, unaufhörlich verändert, wobei die drei Schlagworte lediglich Umrisse liefern und die Bildreihen erst die konkreten, aber variablen Anschauungsmodelle. Sie entwerfen die fragilen Stadien menschlicher Existenz an den Schnittstellen von Realität und Fiktion, Substanz und Medium, Moderne und Postmoderne, eingespannt zwischen Verlangen und Erfüllung, Anwesenheit und Abwesenheit – jede Fotografie dokumentiert das Sichtbare als unweigerlich abwesend –, Exzess und Leere, Berührung und Einsamkeit, Liebe und Tod, Gottesschöpfung und Ersatzteillager. „Hinsetzen – Aufstehen“, hallen die monotonen Kommandos einer aufgezeichneten Performance durchs Atrium, unterbrochen von einem gehauchten, verfremdeten und zärtlich gesprochenen „Ich liebe Dich“, und tauchen die Bilder an den Wänden in eine Atmosphäre emotionaler Irrungen und Wirrungen. Die Bilder handeln vorwiegend von geschlechtlichen Doppel- und Mehrfachdeutigkeiten, und beim Betrachten erfasst manchen Besucher ein jäher Schwindel.

Überwältigend die Räume mit den großformatigen Sequenzen der Werkgruppen „Formalisierung der Langeweile“ und „Sonntagsneurosen“ (1990/92), schwarz auf tief- oder blauschwarzem Fond die Bilder. Jürgen K. die Person, agiert mit anderen, verschwindet, wird Bestandteil einer weiblichen Figur im langen Kleid und dann ersetzt durch Hüllen und Prothesen, Anzüge, Hüte und Stöcke. Zuvor hatte sie die Bildfolge „Pro Securitas“ (1987) bereits auf den schemenhaften Reflex eines Wesens jenseits der empirischen Welt reduziert. Die geheimnisvollen Objekte um sie herum muten gleichwohl bedrohlicher an als der Umstand der physischen Auslöschung mittels Durchleuchten. Mit der Suite „Desaströses Ich“ (1996/98) treten schließlich eigens engagierte Akteure an ihre Stelle, um sich im Endeffekt als Ornamente in Menschengestalt dieser machtvoll auf Rot abgestimmten Bilder zu erweisen.

Trotz ihres Umfangs überfordert die vom Künstler mit aller Sorgfalt inszenierte und von einem prächtigen Katalog (DM 118,-) begleitete Ausstellung nicht die Aufnahmefähigkeit. Sie verzichtet auf strenge Chronologie schlägt vielmehr spannungsvolle Brücken über die Zeit, und selbst die Spielstätte für die Videoprojektion lässt keine Wünsche offen. Man sieht, wie ein menschlichen Individuum in ein Objekt verwandelt, also objektiviert wird. Das Spektrum der Fotografie - in der Ausstellung „Absolute Windstille“ von Jürgen Klauke wird es wirklich zum Ereignis.

© Klaus Honnef

Ein Flug durch die Geschichte der Fotografie (2001)

Aspekte von der Kunstfotografie der Jahrhundertwende zur subjektiven Fotografie der fünfziger Jahre. Beispiele zu 50 Jahren Fotogeschichte aus der Sammlung Walter G. Müller, Brühler Kunstverein, Mönchengladbach 2001

Im Spannungsverhältnis von Kunst und Kommerz hat die Fotografie ihre eigene Ästhetik ausgebildet. Gegen die überhand nehmende Kommerzialisierung der professionellen Fotografie machte schon die piktorialistische Bewegung der Amateure und fotografischen Liebhaber am Ende des 19. Jahrhunderts Front. Mit offensichtlicher Vorliebe für atmosphärische Wirkungen in Anlehnung an die impressionistische und die symbolistische Malerei und einer bewusst unscharfen Linseneinstellung strebten die Fotografinnen und Fotografen des Piktorialismus betont künstlerische Bildlösungen an und scheuten auch manuelle Eingriffe während des Laborprozesses nicht. Der einzelne Abzug wurde als Unikat behandelt.

Auf die primär technischen Möglichkeiten des technischen Mediums besannen sich dagegen die Vertreter und Vertreterin der Fotografie eines „Neuen Sehens“ mit der Variante der „Neuen Sachlichkeit“ nach dem Ersten Weltkrieg. Manipulationen am Negativ waren strikt verpönt, daher der amerikanische Begriff „Straight Photography“. Vor allem die moderne Seite der sichtbaren Welt erregte ihre Aufmerksamkeit, die funktionale Architektur und der motorisierte Verkehr, überhaupt das Reich der Maschine, und die Maschine galt vielen als neuer Gott. Entweder standen die Dinge, meist einfache Gebrauchsgegenstände oder alltägliche Gegebenheiten, im Zentrum der fotografischen Aufnahmen, wobei die Form ihrer Darstellung aufs Notwendigste beschränkt wurde, oder das Sehen selbst, und die Bilder wurden als Konstruktionen des Sichtbaren begriffen. Diese Auffassung äußerte sich in extremen Blickwinkeln, Vogel- und Froschperspektive, und in diagonalen Aufrissen sowie porenscharfen Nahaufnahmen. Außerdem in Montagen, systematischen Reihen und fotografischen Experimenten. Deutlich war die Nähe der Fotografie des „Neuen Sehens“ zur Kunst der Avantgarde, namentlich den Tendenzen des Konstruktivismus, und zunächst ebenso antikommerziell eingestellt wie diese. Gleichwohl feierte sie in der Werbung ihre größten Triumphe, die in den spektakulären Perspektiven und den schnörkellosen Bildern hervorragende Voraussetzungen zur wirksamen Produktreklame erblickte.

Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland verbanden sich die persönlichkeitsbetonten Elemente des Piktorialismus und die postulierte Objektivität des fotografischen Funktionalismus in Europa zur „Subjektiven Fotografie“. Auch die Fotografen und Fotografinnen der „Subjektiven Fotografie“ suchten Anschluss an die Bildsprache der avancierten Kunst, etwa den auslaufenden Surrealismus und den abstrakten Strömungen des Informel. Sie hielten aber insofern an wichtigen Kriterien der Fotografie des „Neuen Sehens“ fest, als sie in der Aufnahmetechnik einen dokumentarischen Stil bevorzugten, den sie allerdings häufig atmosphärisch mit harten Kontrasten und tiefen Schatten, wie unter Einfluss existentialistischer Lebensmodelle, aufluden. Der Verführung der Kommerzialität verweigerte sich die „Subjektive Fotografie“ weitgehend, obwohl sich unter ihnen zahlreiche professionelle Fotografen befanden, die jedoch die beiden Sphären in ihrer Arbeit deutlich voneinander trennten. In der formalen Unentschiedenheit mancher Fotografen entdeckten Kritiker eine Flucht vor den Herausforderungen einer Realität, die alles Vorstellungsvermögen überstieg. Danach verloren sich die markanten Prägungen in der Fotografie allmählich, analog ging die Entwicklung in der Kunst voran, und die Unterschiede zwischen künstlerisch anspruchsvoller Fotografie und Kunst verschwammen zusehends.

© Klaus Honnef

Wer fürchtet sich vor „DDR“-Kunst? (2001)

Kulturreport. Vierteljahreshefte des Mitteldeutschen Kulturrats, Bonn 2001

Im Westen Deutschlands eher verdrängt als vergessen, im Osten für viele noch immer Gegenstand widerstreitender Empfindungen und Ansichten, ragt die DDR wohlfeilen Dementis zum Trotz wie ein schwarzes Loch ins deutsche Bewusstsein. Und es ist nicht ausgemacht, ob mit sich verstärkender oder abschwächender Energie. Nicht anders ergeht es den Zeugnissen der Kunst, die auf dem Territorium der verblichenen DDR angefertigt wurden, und manchen, keineswegs allen Künstlern, die sie schufen. Nur nicht daran rühren, scheint die Devise des Kunstbetriebs zu sein. Wer es gleichwohl unternimmt, erfährt auf seine Initiative selten eine positive Reaktion, vielmehr ein müdes Achselzucken oder aber die Antwort, dass die in Frage stehenden Gemälde und Skulpturen die Bezeichnung „Kunst“ nicht verdienten, ebenso wenig wie die Machwerke nationalsozialistischer „Kunst“.

Begründet wird die pauschale Ablehnung häufig mit dem Hinweis auf die vermeintlich von jeder äußeren Intervention freie Entwicklung der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Hemisphäre, wie sie sich in den repräsentativen privaten und öffentlichen Sammlungen manifestiert. A priori wird unterstellt, dass die Kunst in der DDR beständig außer-künstlerischer, sprich staatlicher Kontrolle unterworfen gewesen sei, wohingegen sich die Künstler im Westen nach eigenem Gusto entfalten konnten. In der abfälligen Bezeichnung „DDR-Kunst“ drückt sich diese Haltung plastisch aus und mischt sich außerdem mit einem verbreiteten Supcon gegen die unterstellte (oder auch erlebte) Provinzialität des angeblichen „Arbeiter-und-Bauern-Staates“. Dabei lässt sich weder das eine noch das andere gänzlich leugnen, aber daraus die Konsequenz zu ziehen, der Kunst der DDR den Kunstcharakter rigoros zu bestreiten, ist zumindest im Licht der Geschichte nicht haltbar und voreilig ohnehin.

Es fällt zunächst auf, dass man es bislang vermieden hat, eine gleichermaßen kritische wie nachhaltige Diskussion über die ästhetische Problematik der entsprechenden Werke zu führen. Vereinzelte, mitunter halbherzige Versuche blieben ohne befriedigendes Ergebnis. Denn eine solche Diskussion schließt ein, sowohl den vorherrschenden Kunstbegriff der Moderne, in deren Vokabular, wenn auch nicht Namen man gerne gegen die „DDR-Kunst“ argumentiert, zu hinterleuchten, als auch die mannigfaltigen Abhängigkeiten, denen sich Kunst in einem marktorientierten Gesellschaftssystem konfrontiert sieht, unter die Sonde der Kritik zu stellen. Stattdessen stempeln die Anwälte der „West-Kunst“ – von einer „BRD-Kunst“ war allein im Osten die Rede – den Gemälden und Plastiken der „DDR-Kunst“ das Etikett des „ästhetisch und historisch Überholten“ auf und reklamieren kurzerhand für ihren Klienten den Status der Überzeitlichkeit.

Doch nicht bloß marxistisch munitionierte Analytiker vergangener Zeiten haben auch die Kunst des Westens unter der Lupe eines ideologischen Vorbehalts betrachtet. Die Praxis der Kunstmuseen in den letzten Jahren, namentlich der Institute, die der Kunst der Moderne qua Auftrag verpflichtet sind, liefern reichlich Indizien für einen Veränderungsprozess im künstlerischen Diskurs, der den postulierten Alleinvertretungsanspruch der modernistischen (westlichen) Kunst längst unterhöhlt hat. Den prinzipiellen Paradigmenwechsel zu theoretisieren hat die Kunstwissenschaft, da die Kunstkritik ausfällt, freilich erst begonnen.

Wenn der angesehene Kunsthistoriker Martin Warnke in einem umstrittenen, doch kaum reflektierten Vortrag, der auch in Essayform erschienen ist, die „Erfolgsstory“ der Avantgarde, also der museal inzwischen weithin akzeptierten Kunst beleuchtet, und ihr für die Geschichte der Kunst schlechthin lediglich die Bedeutung zuerkennt, welche die Wasserspeier für die gotischen Kathedralen besessen hätten, übertreibt er zwar in polemischer Absicht. Zugleich aber lenkt er die Aufmerksamkeit auf den „mainstream“ der zeitgenössischen Bilderwelt, der im Gegensatz zur modernistischen Kunst auf die kollektive Wahrnehmung einen prägenden Einfluss ausübt mit allen Folgerungen für das private und öffentliche Handeln, ohne dass man dieser „populären“ Bilderwelt bisher den Nimbus der Kunst verliehen hätte. Gleichwohl hält sie in immer stärkerem Maße Einzug in die Museen. Mit der künstlerischen Travestie der Unterhaltungskunst (Pop Art usw.) fing es an, mit der Fotografie setzte sich die Tendenz ungebrochen fort und mit der Übernahme des Films (Biennale 2001) findet sie ihren vorläufigen Abschluss.

Sicher - der offenkundige Paradigmenwechsel vollzieht sich hinter dem arg rissig gewordenen Vorhang eines nach wie vor von der Avantgarde installierten und proklamierten Kunstbegriffs, dessen prinzipielle Schwäche sich angesichts einer inzwischen schon verinnerlichten gegenteiligen Praxis durch den immensen Aufwand an ästhetischen Leerformeln zur Untermauerung in unlesbaren Texten verrät. Vor dem Hintergrund eines global operierenden Kunstmarktes mit wachsender Macht muss man schon mit Blindheit geschlagen sein, wenn einem entgeht, dass der Kunstbetrieb der Gegenwart „durch und durch kommerziell“ (Eduard Beaucamp) ist, dass die Museen die Funktion übernommen haben, durch Ausstellungen den kommerziellen Wertmesser zu liefern, und dass sich die Künstlerinnen und Künstler den gleichen Herausforderungen und Gefährdungen ihrer Unabhängigkeit gegenüber sehen, wie sie für den gesamten Komplex der kommerziellen Unterhaltungsindustrie gelten, deren Bestandteil der zeitgenössische Kunstbetrieb ist. Neu ist der Zusammenhang keineswegs, doch die dramatischen Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur während der letzten vierzig Jahre haben auch die Fragilität der modernistischen Kunst aufs Tapet gebracht und die Legende zerstört, die so genannte „autonome“ Kunst der Avantgarde sei tatsächlich restlos autonom. Ihre Freiheit war stets Behauptung und nie Realität. Dass unter dem kommerziellen Aspekt die ästhetische Qualität des künstlerischen Zeugnisses nach der These des modernistischen Kunstbegriffs zwingend leide, entbehrt indes jeder Grundlage. Jedenfalls ist der Kunstbegriff, mit dem man die „DDR-Kunst“ denunzierte, obsolet geworden.

Die Kunst der Gegenwart steht an einem Scheideweg: Ein Wegweiser zeigt in Richtung eines vorwiegend kommerziell orientierten Allotrias mit der fortdauernden Ausbeutung eines längst leer gelaufenen Programms, eines gesellschaftlichen Musters ohne Wert, der andere empfiehlt den steinigen Pfad der Anstrengung, die freiwillig aufgegebene Definitionsmacht über die Welt der Bilder, als kritischer und korrigierender Filter der kommerziellen Bilderwelt sozusagen, zurück zu gewinnen, und gerade die (figurative) Malerei spielt in diesem Zusammenhang aus den verschiedensten Gründen eine große Rolle. Nicht von ungefähr begeistern sich ganz kluge Köpfe mit der Nase im Wind für das provokante Malwerk des betagten Lucian Freud, das sie früher nie eines Blickes gewürdigt hatten, oder das Frank Auerbachs, und es bedarf keiner Prophetengabe, um vorherzusagen, dass der kommerzielle Kunstbetrieb, eben weil er kommerziell ist, auch bald, sogar im Westen, die unverbrauchte Prägnanz von Bildern entdecken wird, die in der DDR gemalt wurden. Die private Nachfrage ist ohnehin rege, und glücklich die Museen, die dann nur ihr Magazin aufsuchen müssen, um sich in den „neuen“ Trend einklinken zu können. Selbst ohne ästhetischen Diskurs wird’s die normative Kraft des Faktischen schon richten.

© Klaus Honnef