PHOTONEWS: Zeitung für Fotografie, Nr. 3/12, S. 3
„... wenn ich mir angucke, was wir so machen, dann fehlt es da einfach ein bisschen an Radikalität und Originalität, vielleicht auch an Größenwahnsinn“, sagte der deutsche Filmemacher Matthias Glasner in einem Gespräch mit der FAZ. Das Gespräch fand im Vorfeld der Berlinale 2012 mit Glasner und seinen Kollegen Christian Petzold und Hans-Christian Schmid statt und wurde am 9. Februar veröffentlicht. Alle drei Regisseure waren im Wettbewerb des Filmfestivals vertreten. Außer der selbstkritischen Einsicht von Glasner ist eine Forderung von Petzold bemerkenswert, zumal sie sich ohne weiteres auf die fotografische Szene in Deutschland über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung projizieren lässt: „Ich verlange vom Filmemacher in Deutschland, dass man Filme macht, die etwas gesehen haben...“ Das bundespräsidiale „man“ einmal ausgeblendet, wodurch sich die subjektive Verantwortung ins Nebulöse verflüchtigt, trifft Petzolds Forderung den Kern der Sache: Entscheidend sind Bilder, „die etwas gesehen haben“. Dabei widerspricht sie der Feststellung Glasners, der zufolge es den Bildern oft an Radikalität, Originalität und Größenwahn mangelt, nicht.
Wer sich in den letzten Jahren intensiver mit den Zeugnissen der zeitgenössischen Fotografie in praktischer Anschauung beschäftigt hat, wundert sich zunehmend darüber, was die Fotografinnen und Fotografen, die ihre Bilder in privaten Galerien, öffentlichen Kunstinstitutionen und an alternativen Orten zeigen oder in Life-Style-Magazinen und den seltenen Illustrierten publizieren, alles nicht gesehen haben. Darum ist in ihren Bildern auch nichts zu sehen. Zwar steigt die Anzahl der ausgestellten Fotografien stetig an, die Anzahl der Bilder unter den Fotografien scheint im umgekehrten Verhältnis aber beständig abzunehmen. Stattdessen häufen sich die Klischees, die Bildmuster, die sich als erfolgreich erwiesen haben und entsprechend geläufig sind. Davon ausgenommen ist keine fotografische Sparte, nicht die journalistische noch die dokumentarische noch die künstlerische – um, auch wenn es unsinnig ist, an den gängigen Zuordnungen festzuhalten. Die Grenzen haben sich ohnehin längst vermischt. Ein eklatanter Mangel an Neugierde ist den meisten Bildern gemeinsam, an ästhetischer Risikobereitschaft. Erst vor kurzem promovierte World Press Photo eines der vernutztesten Motive „klassischer“ Malerei und Plastik zum Pressefoto des Jahres 2012: Eine Pietà aus dem Jemen. Eine Aufnahme, die zeigt, wie eine tief verschleierte Frau einen toten Mann in den Armen hält. Seinen aufrüttelnden Impuls bezieht das Bild allein aus dem Code des zitierten Vorbildes, sichtbar in der Pyramidenform der Pietà-Darstellung. Er bezeichnet ein Mutter-Sohn-Verhältnis. Das einzig irritierende Moment des Bildes sind die weißen Handschuhe der Frau.
Klischees verbergen die Bilder und verhüllen außerbildnerische Interessen. Klischees sind Bilder, die nichts gesehen haben, außer einem erfolgreichen Musterbild. Die jedoch etwas verkaufen wollen: Waren, Ideologien, Moden. Die Ursachen des verbreiteten Hangs zum Klischee in der Fotografie sind vielfältig und liegen nicht ausschließlich in der Phantasie- und Mutlosigkeit der Autoren.
Ein Grund ist in der Logik der Technik zu suchen, deren immanentes Gesetz auf Perfektion lautet. Perfektion ist eine zweischneidige Angelegenheit. Die Masse der fotografischen Bilder, die der Amateure ein¬geschlossen, liefert die Probe aufs Exempel. Je perfekter die Maschinen, die Bilder herstellen, desto steriler ihre Produkte. Im Vergleich zu den glatten Familien- oder Touristenfotos von heute wirken die ungelenken, verwackelten Aufnahmen früherer Zeiten vital und persönlich. Vermutlich ist ein geringer Anteil Fehlerhaftigkeit notwendig für ein außergewöhnliches Bild. Trotz allen Strebens der Urheber nach Vollkommenheit: ein Gran Unvollkommenheit. Deshalb beruht die gelegentlich aufflammende Diskussion, ob die großen Künstler der Vergangenheit die Camera obscura zur Handhabung der Perspektive benutzt haben, auf falschen Voraussetzungen.
Die vollendete Beherrschung der Perspektive war nämlich selbstverständlicher Teil ihres technischen Rüstzeugs. Aber sie war Handwerk. Angewandt nach den Opportunitäten der jeweiligen Gestaltung und ihnen angepasst. Die Perspektive musste durch mühevolle Übung erlernt werden. Das Medium Fotografie hat hingegen alle Menschen ohne Ausnahmen zu potentiellen Bildautoren gemacht, sie sämtlicher Mühen enthoben und das Privileg der professionellen Bildschöpfer gebrochen. Darin liegt ihre einschneidende soziokulturelle Bedeutung. Um den Preis allerdings, dass die Bilder eine Tendenz zum Uniformen entfalten und die Fotografen sich in menschliche Attribute der Maschinen verwandeln, die ihre Mechanismen nicht mehr durchschauen. Die perfekte Maschine ersetzt das Sehen und bietet sogar an, durch welchen Kunstfilter, vom Impressionismus bis zum Realismus, ein Bild gesehen werden kann. Nicht von ungefähr rief Vilém Flusser in seiner „Philosophie der Photografie“ die Künstler nachdrücklich dazu auf, Bilder gegen die Maschinen zu realisieren. Und endlich wieder sehen zu lernen, wäre hinzufügen.
Ein außertechnischer Grund für die ästhetische Entleerung der Bilder besteht in der Phantasie- und Mutlosigkeit derer, die eine Schlüsselstellung in den verschiedenen Vermittlungssystemen von Bildern haben, den Redakteuren, Art-Direktoren, Produzenten, Jurys, Kuratoren und Kunsthändlern. Sie verstärken die Neigung der Bildautoren zu erprobten Lösungen visueller Herausforderungen und fördern die Scheu vor ästhetischem Risiko. Erweist sich ein bestimmtes Muster, sei es visuell, narrativ oder diskursiv, als erfolgreich, wird es immer wieder nachgeahmt und so oft in leichten Variationen reproduziert, bis es förmlich unsichtbar wird und allenfalls noch ein lahmes „Déjà-vu“ oder „Aha“ provoziert. Gleichwohl – oder womöglich auch deshalb – scheint das Klischee bei der Mehrzahl seiner Adressaten einen pavlovschen Reflex auszulösen, seiner Botschaft in irgendeiner Form (Kaufappell) nachzugeben.
Jedenfalls verheißt das Klischee die Sicherheit, auf Anhieb wieder erkannt zu werden. Sicherheit ist ein Passepartoutwort der Postmoderne; Sicherheit wollen selbst die Urlauber, die Abenteuer buchen. Vor der Folie fortschreitender Kommerzialisierung, der Raison d´être der modernen Konsumgesellschaft, ist das Klischee ein „sicheres“ Markenzeichen. Ein Markenzeichen signalisiert einen bekannten Namen, der Sozialprestige verspricht; die Zugehörigkeit zu einer sozialen Grup¬pe, der „man“ angehören möchte. Konformismus ist die Kehrseite kommerzieller Praxis.
„Entlebung“ hat Konstantin Wecker die Konsequenzen der wachsenden Gentrifizierung in angesagten Innenstadt-Quartieren beliebter deutscher Großstädte wie München, Hamburg und Berlin genannt. Besonders „entlebt“ wirken auf mich die meisten der fotografischen Bilder, die unter der Flagge der „Kunstfotografie“ segeln. Wohlgemerkt: „Lebendigkeit“ war einst eine markante Kategorie der Kunstkritik. Die Gentrifizierung korrespondiert mit der Sterilität der Kunstfotografie. Wahrscheinlich stecken äquivalente soziokulturelle Antriebskräfte dahinter. Vor einigen Jahrzehnten, als die Fotografie nach Anathema in deutschen Kunstmuseen war, galt „Kunstfotografie“ als verpönter Begriff. Hilla und Bernd Becher hätten sich nie als solche apostrophiert. Inzwischen ist der Streit um die künstlerische Legitimität des technischen Mediums ausgestanden. Nicht unbedingt zum Vorteil der Fotografie. Während sich der fotografische Journalismus, der in den vergangenen Jahren weitgehend seine materielle Basis verloren hat, sozusagen „neu erfand“ und nicht selten Bilder erzeugt, die im Petzoldschen Sinne „gesehen haben“ und einen überraschenden Zugang zur Welt eröffnen, hat der Erfolg im Kampf um künstlerische Anerkennung die ästhetisch ambitionierte Fotografie korrumpiert.
Ich habe die fotografischen Impressionen banalster Alltagsdinge schon lange über. Ebenso wie die visuellen Umsetzungen melancholischer Befindlichkeiten des fotografierenden Ich, mit ausgedehnter Introspektion, vorzüglich von jüngeren Vertretern, deren Erfahrungsraum notwendigerweise eng begrenzt ist. Am schlimmsten indes ist die Attitüde eines emphatisch zur Schau getragenen Kunst-Wollens. Äußerlich manifest durch übergroße Formate in Diasec oder Alubond; durch endlose Wiederholungen des Immergleichen à la Sanderbecherevans, ohne zwingende optische Begründung; durch formale Selbstreferenzen mit der Behauptung des „Konzeptuellen“ oder „Konzeptionellen“. Tatsächlich Zeugnisse von dürftigem ästhetischen Ertrag und im besten Fall Pastiches. Eine Idee, die Klischees zu transzendieren, enthalten sie nicht.
Dennoch wäre es falsch, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es die originellen, radikalen, die größenwahnsinnigen Bilder nicht. Als seien bloß ihre Urheber größenwahnsinnig, die Megastars der Szene, und als würden die „Mittelmaßmeister“ (FAZ) die Leitmelodie der „Fotokunst“ pfeifen. Es gibt sie, aber sie fallen durch das Raster von Klischee gesättigten Erwartungshaltungen. Ein paar willkürliche Beispiele aus deutschsprachigen Ländern zum Trost am Ende: das größenwahnsinnige Lebensprojekt „Time Scape“ von Michael Ruetz, die intelligente Erweiterung des Porträtgenres von Carina Linge, die langjährige Exploration des Ichs als erschreckend multiples Wesen von Irene Andessner, die beziehungsreiche „Aktualisierung“ des Gesellschafts-Atlas von August Sander durch Albrecht Tübke.... Bilder, die gleichzeitig in Vergangenheit und Gegenwart operieren – radikale Zeit-Bilder. Auch diese Bilder sind flach, doch ihre Welt ist keine Scheibe.
© Klaus Honnef